Berlin. Mit der Musterfeststellungsklage will die Regierung Verbraucherrechte stärken. Im Abgasskandal muss bisher jeder persönlich klagen.

Im Zuge des Abgasskandals muss nicht nur Volkswagen, sondern auch BMW Tausende Fahrzeuge zurückrufen und umrüsten. Den Ärger und Schaden haben vor allem Kunden, deren Fahrzeuge für diese Werkstattzeit nicht zur Verfügung stehen und zudem im Wiederverkaufswert sinken. Anders als in den USA muss in Deutschland jeder Bürger seine Ansprüche persönlich einklagen.

Doch dies soll sich mit der neuen Bundesregierung ändern. Zwar wird hierzulande kein Sammelklageverfahren mit gigantischen Entschädigungszahlungen wie in den USA angestrebt, doch zumindest soll der Klageweg gegen Unternehmen für alle vereinfacht werden.

Mit der Musterfeststellungsklage will die Bundesregierung ein kundenfreundliches Instrument bis Herbst auf den Weg bringen. Die wichtigsten Fragen und Antworten dazu:

• Haben Verbraucher künftig bessere Chancen, ihr Recht gegenüber Unternehmen durchzusetzen?

Das ist zumindest das Ziel der Musterfeststellungsklage (MFK), die von der großen Koalition eingeführt wird. Das betrifft unter anderem auch so genannte Massengeschäfte, bei denen es im Einzelfall um wenige Euro gehen kann.

Beispiel: Hat eine Bank oder ein Stromversorger unwirksame Preisklauseln in seinen Geschäftsbedingungen, haben Kunden möglicherweise einen Rückzahlungsanspruch. Doch wegen geringer Beträge zieht kaum jemand wegen des Risikos einer Niederlage vor Gericht. Das wird sich ändern.

• Ist das Verfahren mit Sammelklagen in den USA vergleichbar?

Zwischen beiden Klageformen gibt es einen entscheidenden Unterschied. Bei einer MFK stellt das Gericht lediglich fest, ob ein Verstoß der Beklagten vorliegt. Es entscheidet aber weder über die Höhe des entstandenen Schadens noch über die einer Entschädigung. Beides muss anschließend individuell geklärt werden.

Bei der Sammelklage legen die Richter dagegen Schadenersatzzahlungen fest. Das erhöht den Anreiz für einen Missbrauch der Klage, weil mit einem Erfolg vor Gericht Geldzahlungen verbunden sind.

• Worin besteht der Vorteil gegenüber der bisherigen Rechtslage?

Verbraucher setzen ihr Recht ohne großes eigenes Zutun durch. Bei der MFK besteht kein finanzielles Risiko für die Verbraucher bei der Rechtsdurchsetzung. Modelle mit privaten Rechtsdienstleistern, die Betroffenen das Klagerisiko abnehmen und dafür im Erfolgsfall einen Teil der Entschädigung erhalten, werden unnötig. Auch erhofft sich die Bundesregierung eine Entlastung der Justiz durch das gebündelte Verfahren.

• Wie soll das Verfahren ablaufen?

Wenn sich zehn geschädigte Verbraucher finden, kann eine MFG durch eine sogenannte „qualifizierte Einrichtung“ – wie etwa die Verbraucherzentralen – eröffnet werden. Im Internet wird dann ein Klageregister eingerichtet. Innerhalb von zwei Monaten müssen sich dort wenigstens 50 Betroffene registrieren. Daraus entstehen keine Kosten.

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    Das Register wird beim Bundesamt für Justiz geführt. Mit der Anmeldung der MFK wird die Verjährung ausgesetzt. Das Urteil in diesem Verfahren ist schließlich verbindlich für alle Gerichtsverfahren in dieser Sache.

    • Bekommen die Betroffenen automatisch Schadenersatz?

    Das ist nicht zwangsläufig der Fall. Eine Möglichkeit ist der Vergleich beider Parteien während des Verfahrens. Dann wird das betroffene Unternehmen wahrscheinlich von sich aus Ausgleichszahlungen anbieten. Kommt es zu einem Feststellungsurteil, müssen die einzelnen Geschädigten ihre Ansprüche durchsetzen. Sie können dafür zum Beispiel die jeweilige Schlichtungsstelle anrufen oder auf die Leistung klagen.

    • Drohen mit der Einführung der Musterfeststellungsklage amerikanische Verhältnisse?

    In den USA gibt es Sammelklagen, in denen mitunter viele Tausend Kunden gemeinsam gegen eine Firma vor Gericht ziehen und Entschädigungen oder Strafzahlungen erstreiten, die weit höher ausfallen können als der tatsächliche Schaden. Dies wird in der Regel von spezialisierten Anwaltskanzleien als regelrechtes Geschäft betrieben. Daraus hat sich eine Klageindustrie zu Lasten der Wirtschaft entwickelt.

    Bei der MFK ist dieser Anreiz nicht gegeben, weil das Gericht lediglich feststellt, ob sich ein Unternehmen falsch verhalten hat oder nicht. Geldleistungen resultieren aus diesem Urteil nicht.

    • Warum reicht der Opposition die neue Klageform nicht?

    Die Grünen verlangen eine weitergehende Regelung. „Wir brauchen Gruppenklageverfahren“, sagt der Fraktionsvize der Partei, Oliver Krischer. Zwischen beiden Varianten besteht ein wichtiger Unterschied. Nach den Plänen der Regierung dürfen nur Verbände vor Gericht ziehen.

    Krischers Vorschlag sieht vor, dass sich zehn oder mehr Geschädigte selbst zu einer Gemeinschaft zusammenschließen und klagen dürfen. „Damit haben zukünftig auch diejenigen Chancen, die keinen Zugang zu eigenen Rechtsabteilungen und großen Klagebudgets haben“, erläutert der Grünen-Politiker.

    • Wann könnten die ersten Verfahren auf den Weg gebracht werden?

    Die neue Verbraucherministerin Katarina Barley hat einen ehrgeizigen Zeitplan aufgestellt. Nur zwei Tage nach Amtsantritt hat sie den Gesetzentwurf an die anderen Ministerien verteilt. Noch im April soll das Bundeskabinett das Gesetz beschließen. Es kann somit noch vor der Sommerpause im Bundestag behandelt werden.

    „Wer Recht hat, wird einfacher zu seinem Recht kommen“, sagt die SPD-Politikerin. Der Verbraucherschutz werden weiterhin eine zentrale Rolle in ihrem Ministerium spielen.

    • Haben damit auch betrogene Diesel-Besitzer Chancen auf Schadenersatz?

    „Wir werden drohende Verjährungen zum Jahresende 2018 verhindern und deshalb das Gesetz spätestens am 1. November 2018 in Kraft treten lassen“, kündigt die Ministerin an. Die Diesel-Fahrer, die durch illegale Manipulation ihrer Abgasanlage betrogen wurden, können auf ein erstes Verfahren nach der neuen Regelung hoffen. Barley legt genau deshalb so ein Tempo vor.

    Der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) hat schon angekündigt, dann eine MFK für die VW-Kunden anzustrengen. Es muss jedoch alles sehr schnell gehen, weil etwaige Entschädigungsansprüche am Jahresende verjähren.

    • Wie viele Klagen von VW-Kunden gibt es bereits?

    Von den 2,6 Millionen betroffenen Autofahrern haben rund 7000 eine Klage gegen VW eingereicht. Dazu kommen noch einige Zehntausend Kunden, die ihr Klagerecht an Rechtsdienstleister wie Myright abgegeben haben. Allein diese Kanzlei hat in einem ersten Schub Klagen für 15.000 Klienten eingereicht. Mit der MFK dürfte die Zahl der Kunden, die sich wehren, deutlich steigen.

    • Was halten Verbraucherschützer und Wirtschaft von dem Verfahren?

    Klaus Müller, Chef des Bundesverbands der Verbraucherzentralen, ist begeistert, dass diese Klagemöglichkeit eingeführt wird. „Viele können sich eine Klage gar nicht leisten und bleiben auf der Strecke“, erläutert er. Dies ändere sich nun.

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      Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) ist dagegen skeptisch. „Die Öffnung der Klageberechtigung für Private eröffnet viele Missbrauchsrisiken, gegen die sich Unternehmen zu Recht zur Wehr setzen“, sagt DIHK-Chefjustiziar Stephan Wernicke. Die Wirtschaft fürchtet, dass private Anwaltskanzleien die MFK als Markt nutzen werden.

      Das alles hängt von der Ausgestaltung des Gesetzes im Detail ab. Die ist noch offen. Es kommt selten ein Gesetz wieder so aus dem Bundestag heraus, wie es hineingekommen ist. So kann sich auch am MFK-Gesetz noch einiges ändern.