Serie: Immer mehr Menschen arbeiten weit jenseits des Rentenalters. Friederike Garbe finanziert mit ihrem Job ihre eigene Babyklappe

Überall stehen Kerzen. Noch von ihrem Geburtstag vor ein paar Tagen. Früher hat sie für jedes Lebensjahr eine Kerze aufgestellt. Doch irgendwann ist ihr das zu viel geworden. Jetzt gibt es nur noch eine für jedes Jahrzehnt. Zehn waren es diesmal. Auch wenn sie natürlich keine 100 ist. Sondern 73. Sieben Kerzen für jedes Jahrzehnt und drei für jedes Jahr. Keine echten. Sondern LEDs. Die Flamme bewegt sich leicht.

Friederike Garbe sitzt in einem Raum wie aus der Zeit gefallen. Mit einem Biedermeiertisch, schweren, alten Teppichen, Schallplattenspieler und vier Jugendstil-Stühlen. Früher, bevor sie und ihr Mann das historische Kaufmannshaus aus dem 15. Jahrhundert gekauft haben, war hier das Kontor. Heute ist es ihr kleiner Salon. Auf einem alten Sekretär hat Friederike Garbe zwei abgenutzte Ordner bereitgelegt. Zwei Teile ihres Lebens, untrennbar miteinander verbunden. Denn ohne den einen Teil gebe es den anderen nicht.

Am liebsten zeigt Friederike Garbe die Fotos von den Babys. Ihren Babys, wie sie die Kinder nennt. Weil sie ihnen einen Namen gegeben hat. Ein Zuhause, als sie kein anderes hatten. Auf einigen Bildern ist sie selbst auch zu sehen. Jünger. Blonder. Mit ein paar grauen Strähnen. Heute ist sie komplett grau, fast schon weiß. Fast 15 Jahre ist es her, dass die ersten Bilder im Album gemacht wurden. 2003 war das. Da hatte Friederike Garbe gerade in ihrem eigenen Haus eine Babyklappe eingerichtet. Es war die zweite moderne Babyklappe, die es in Deutschland gab. Über Friederike, die „Baby-Retterin“, wie man sie nannte, wurde damals viel berichtet. „Sonst ...“, sagt sie und greift zum zweiten Ordner. „Sonst würde es den hier nicht geben.“

Ihr Verdienst an einem Tag ist höher als ihre Rente im Monat

In den Klarsichthüllen stecken noch mehr Bilder. Wieder mit Friederike Garbe. Doch es ist eine andere Friederike. Friederike, das Senior-Model. Mit Kamelhaarmantel auf einem Elektromobil. Mit strenger Hochsteckfrisur und Hornbrille. Friederike auf der Titelseite eines Tchibo-Katalogs. In einem Aldi-Prospekt. In einer Modestrecke für eine Frauenzeitschrift. In einer Anzeige für ein Osteoporose-Medikament. Mit Günther Jauch bei „Wer wird Millionär“.

Wer Friederike Garbe gegenübersitzt und sie von ihren Babys und Gott reden hört, kann sie erst mal nur schwer mit der Frau aus der Werbung in Einklang bringen. Zu groß erscheint der Gegensatz zwischen der sozial engagierten Christin, die die Babyklappe sowie ein Mutter-Kind-Haus initiiert hat – und der modelnden Seniorin, die sorgsam geschminkt in Anzeigenkampagnen posiert. Doch der Eindruck täuscht. Friederike Garbe ist beides. Oder nichts davon. Sondern viel mehr.

Die Geschichte von Friederike Garbe beginnt kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In einem Winter, der so bitterkalt war, dass die Ärzte ihr, diesem winzigen Wesen, kaum Überlebenschancen gaben. Ihrer Mutter rieten, „das mal hier zu lassen.“ Mit „das“ meinten die Ärzte sie. Friederike. Wenn sie heute ihren Namen buchstabieren soll, sagt sie immer: „Wie der Frieden.“ Doch in jenen Tagen, als die Rote Armee kurz vor der Eroberung Breslaus stand und auf den Schneehügeln am Straßenrand erfrorene Babys lagen, dachte niemand an Frieden.

Es sind Geschichten aus einer anderen Zeit. Heute kaum vorstellbar. Und obwohl Friederike Garbe erst zwei Tage alt war, als sie mit ihrer Mutter in dem letzten Zug, einem Krankentransport, aus Breslau floh, prägt sie all das bis heute. Mit „all das“ meint sie das, was ihre Mutter erzählt hat: den Tod des Vaters an der Front, ihre Nottaufe, die tagelange Zugfahrt im Gepäcknetz des Waggons. Die dreimonatige Flucht. Die Angst. Und dieses Gefühl, eine Last gewesen zu sein. Als Baby fast zurückgelassen worden zu sein. Alleine. So wie die Babys, die heute bei ihr zurückgelassen werden. 18 waren es bisher.

Sie kennt die Namen von jedem einzelnen, ihre Geschichten. Gesichter. Zum Beispiel Barbara, die von der Mutter mit einem rosa Seidenband abgenabelt worden war. Die drei Wochen bei ihr blieb, in ihrem Bett schlief, von ihr gefüttert wurde. Die auf ihre Stimme reagierte, ihren Geruch kannte. Als Babsi zu einer Pflegefamilie kam, musste Friederike Garbe ihr eins ihrer getragenen Nachthemden mitgeben. Damit das Neugeborene etwas hatte, das nach Friederike roch. Das es über die Trennung hinwegtrösten würde.

Oder Anna. Der Friederike Garbe einen Abschiedsbrief mitgab: „Wenn du diesen Brief liest, wirst du schon ein erwachsenes Mädchen sein, ich eine alte Dame von wahrscheinlich über 70. Doch falls ich zu diesem Zeitpunkt noch leben sollte, wäre es mir eine ganz große Freude, dich zu sehen.“

15 Jahre ist das her. Doch Anna hat sich nie bei ihr gemeldet. Im Treppenhaus hängt ein rundes Gipsbild mit ihrem Namen. So wie von jedem Baby, das hier abgegeben wurde. Aufgenommen wurde.

Friederike Garbe, sehr schlank, sehr vital, steigt mühelos die Treppen hoch. Ein Stockwerk, noch eins, noch eins. Hinauf in den dritten Stock ins Büro, dann wieder runter. Vier Etagen. In den Keller. Hier steht das Wärmebettchen, in das die Kinder gelegt werden, wenn jemand die Babyklappe von außen öffnet. So ein richtiges, wie auf den Intensivstationen der Krankenhäuser. 15.000 Mark kostete das Bett damals. 8000 Mark die mechanische Tür, die sich nur einmal von außen öffnen lässt. 10.000 Mark die Alarmanlage, die ein Signal auf ihrem Handy auslöst, sobald die Babyklappe betätigt wird. Und obwohl regelmäßig Geld gespendet wird, stecken Friederike Garbe und ihr Mann fast ihre komplette Rente sowie ihre Mieteinnahmen in die Finanzierung ihres Herzensprojekts. In die Abzahlung des 650 Quadratmeter großen Hauses mit den Wohnungen für sieben Mütter mit ihren Kindern, den Unterhalt und die Instandsetzung des alten Gebäudes. In Strom, Heizung, Wasser. 1500 Euro müssen sie jeden Monat tilgen. 1500 Euro bekommt ihr Mann Rente. Unfallrente, aus seiner Zeit, als er noch angestellt und nicht selbstständig war. Das Geld ist knapp, jeden Monat wieder. Etwas zurücklegen? Vorsorgen für später? Das nimmt sie sich jeden Monat vor. Und schafft es meistens doch nicht. Drei- oder viermal hat die Bank schon ihr Konto gesperrt.

Der Job, die Arbeit als Model, ist ihr wichtig. Nicht nur, weil sie da gut verdient. 500 bis 600 Euro sind es meistens für Fotoaufnahmen, bei Fernsehwerbung 1000 bis 1500. Einmal hat sie sogar 3000 Euro bekommen. Das vergisst sie nie. 20 Prozent erhält ihre Agentur. „Das ist schnell verdientes Geld, das uns sehr hilft“, sagt Friederike Garbe und schüttelt den Kopf. Manchmal wundert sie sich selbst ein bisschen darüber, was sie für skurrile Aufträge bekommt. Da ist zum Beispiel diese Geschichte, als sie einen Film für ein Beerdigungsinstitut gedreht hat. Als sie erst mit ihrem Filmpartner lachend Fahrrad fährt – und im nächsten Moment weinend an seinem Sarg steht. Das sei schon ein bisschen verrückt gewesen. Vor allem, weil sie sich direkt nach den Dreharbeiten auf der Friedhofstoilette umgezogen hat und dann zu einer Anprobe von Tchibo gegangen ist. „Wenn man dann bedenkt, dass ich in dem Job an einem Tag mehr verdiene, als ich im ganzen Monat an Rente bekomme ...“, sagt sie. 150 Euro Rente hat sie persönlich gerade mal.

Neulich hat sie eine Nachzahlung bekommen. 800 Euro für ein altes Foto von ihr, das noch mal verwendet werden sollte. „Das Geld kam genau richtig, hat uns aus einer finanziellen Not gerettet“, sagt sie. Doch es geht nicht nur ums Geld. Es geht auch um Bestätigung. Das Gefühl, etwas wert zu sein. Nachdem sie all die Jahre geglaubt hatte, eine Last zu sein. Selbst als sie schon verheiratet und Mutter war, konnte sie nicht aufhören zu glauben, dass ihre Familie ohne sie besser dran wäre. Zweimal hat sie versucht, sich das Leben zu nehmen.

Mit 60 ist sie von einer Agentur entdeckt worden

Friederike Garbe steht auf, schenkt Wasser nach. Bietet Marzipantorte an, natürlich von Niederegger. Sie selbst nimmt nichts, achtet streng auf ihre Figur. Morgens trinkt sie meistens nur einen Kaffee, schwarz, isst einen Apfel und ein halbes Brötchen. Ihr Leben lang hat sie Kleidergröße 36/38 gehabt, das soll sich nicht ändern. Auch nicht im Alter. Oder gerade dann nicht. Ist schließlich ihr Kapital. Denn, das ist klar, wenn sie nicht aussehen würde, wie sie aussieht, wäre sie nie als Senior-Model entdeckt worden. Damals, vor 13 Jahren, als die ersten Berichte über sie und ihre Babyklappe erschienen und die Mitarbeitern einer Agentur beim Anblick der Fotos erkannte, welche Ausstrahlung sie hat. Welches Potenzial in ihr steckt.

Es ist, als ob sie angekommen ist. Sich ein Kreis geschlossen hat. Schon als junge Frau wollte sie Schauspielerin oder Sängerin werden, ist als Solistin bei Hochzeiten und Geburtstagen aufgetreten. Doch ihrer Mutter, der Leiterin eines Altenheims, war das zu extravagant. Sie fand, ihre Tochter solle was Ordentliches werden. In einer Bank arbeiten. Oder in einem Büro.

Hat sie dann auch. Bei einem Ingenieur und Architekten als Bauzeichnerin. Doch die technische Arbeit lag ihr nicht. Ihr Chef sagte immer, dass auf ihren Eisenbahnschienen jeder Zug entgleisen würde. Heute ist sie mit ihrem Chef verheiratet. Seit 52 Jahren. Die Kerze, die sie zur Goldenen Hochzeit bekommen haben, steht im Salon. Sie ist echt.

Oh, es gibt so viel, was sie zu erzählen hat. Von der Zwangsversteigerung, bei der sie an das Haus gekommen sind und die Anzahlung, 30.000 Mark bar, in einer Plastiktüte übergeben haben. Von dem Verein Leben bewahren, der Schwangeren und jungen Müttern in Not half und Anfang der 1990er-Jahre ein Haus für die Betroffenen suchte. Und von den sieben Wohnungen, die sie und ihr Mann für die Frauen und ihre Kinder bauen ließen. Mehr als 200 Mütter und Kinder sind dort seit 1995 aufgenommen worden. Flüchtlinge, Alleinerziehende, Minderjährige. Die Miete zahlt meist das Amt. Für alles andere kommen die Garbes auf. Privat.

Die Zeit wird knapp. Friederike Garbe möchte zu ihrem Mann Günther (79), der schon den ganzen Vormittag im Zimmer nebenan alleine ist. Seit einer Hirnblutung vor fünf Jahren ist er ein Pflegefall. Höchste Pflegestufe. Sie will ihn nicht so lange alleine lassen. Deswegen nimmt sie nur noch Jobs an, die im Umkreis von 200 Kilometern sind. Damit sie abends nach Hause fahren kann. Um bei Günther zu sein. Er braucht sie.

Trotzdem will sie weitermachen. Solange es geht. Mit dem Mutter-Kind-Haus, der Babyklappe. Dem Modeljob. Sie mag die Abwechslung. Sich immer auf neue Situationen einzustellen, andere Menschen und Aufgaben. Sie will nicht bloß Fotos machen lassen, sondern eine Rolle ausfüllen. Ihr Leben einhauchen. Egal, ob sie eine Lottogewinnerin oder Witwe mimen soll. Inzwischen ist sie ein Profi, kann stundenlang posieren, auf Signal lachen oder weinen. Manchmal, wenn sie mal wieder in einer unbequemen Pose ausharren muss und der Nacken schmerzt oder die Füße in hohen Schuhen pochen, denkt sie einfach an ihre Babys. Das hilft. Immer. Am Set wird sie sehr respektvoll behandelt, fast schon ehrfürchtig. „Klar, für die jungen Leute bin ich eine steinalte Frau“, sagt sie und lacht. Sie stört ihr Alter nicht. Im Gegenteil. Wer weiß, ob sie mit 20 oder 40 entdeckt worden wäre. Und ob sie da schon gewusst hätte, was sie will – und was nicht.

Neulich ist sie für ein Buch über die neue Generation von Frauen ab 60 por­trätiert worden. Als der Fotograf gefragt hat, ob sie sich für die Bilder noch zurecht machen will, hat sie „Nein“ gesagt. Man soll sie so nehmen, so sehen, wie sie ist. Und damit meinte sie nicht nur die Fotos von sich.

Nächsten Sonnabend:
Mit 70 noch mal einen neuen Friseursalon