Hamburg. Experten von Berenberg und M.M. Warburg geben sehr unterschiedliche Bewertungen ab. Das Abendblatt sucht nach den Gründen

Kaufen, halten oder verkaufen – gerade in unsicheren Börsenzeiten bieten Aktienanalysen den Investoren eine wichtige Orientierungshilfe. Auch Privatanleger nutzen die Empfehlungen immer häufiger, seit sie auf Finanzseiten im Internet oder in der Presse wenigstens auszugsweise veröffentlicht werden. Für Bankhäuser, die am Kapitalmarkt aktiv sind, stellen solche Analysen einen bedeutenden Teil des Dienstleistungsspektrums dar – auch für die beiden Hamburger Privatbanken M.M. Warburg & CO und Berenberg. Dabei fällt eines auf: Die Experten bei M.M. Warburg waren in ihren Einschätzungen im Schnitt zuletzt spürbar zuversichtlicher gestimmt. Das zeigt sich auch an den aktuellen Empfehlungen für norddeutsche Aktienwerte.

Doch wie kommen solche Empfehlungen und die Kursziele überhaupt zustande? Das Abendblatt blickte hinter die Kulissen der vertraulichen Aktienanalyse. Außenstehenden erscheint dies als ein sehr diskretes Geschäft, über das nur wenig an die Öffentlichkeit dringt. Das gilt zum Beispiel für die Informationsquellen der Experten. Tatsächlich müssen sie nicht nur mit den Zahlen arbeiten, die ein Unternehmen in allgemein zugänglichen Geschäfts- oder Quartalsberichten bekannt gibt. Gespräche mit dem Spitzenmanagement, also mit dem Firmenchef oder dem Finanzvorstand, telefonisch oder direkt vor Ort spielen eine große Rolle. Dabei bewegen sich Manager und Analysten auf einem schmalen Grat: Natürlich dürfen die Firmenvertreter keine Insider-Informationen preisgeben. Das wäre strafbar. Aber die Experten bekommen Gelegenheit, sich die Strategie des Unternehmens und eine Einschätzung des Wettbewerbsumfelds aus erster Hand erläutern zu lassen.

„Üblicherweise besuchen unsere Analysten ein Unternehmen, entwickeln ein Bewertungsmodell und nutzen außerdem ihre detaillierte Branchenkenntnis, um Prognosen zu erstellen“, sagt Laura Janssens, Leiterin Aktienresearch Europa bei Berenberg. Das klingt einfach, kurz und bündig. Doch es ist mit viel Arbeit verbunden. „Wenn wir ein Unternehmen neu in die Beobachtung aufnehmen, kann der erste Bericht vier bis sechs Wochen in Anspruch nehmen“, erklärt Roland Rapelius, Leiter für Aktienresearch bei Warburg.

„Die Grundlage bildet bei uns immer eine Branchenstrukturanalyse“, so Rapelius. Dabei beurteile man die Marktstellung der Firma mit Blick auf die Konkurrenz durch bestehende und potenzielle neue Wettbewerber, die Verhandlungsstärke gegenüber Lieferanten und Kunden sowie schließlich die mögliche Bedrohung durch Innovationen. Im nächsten Schritt erfolgt eine Prognose, wie sich die Umsätze, die Kosten und damit die Gewinne über die kommenden Jahre weiter entwickeln werden.

Komplizierte Rechenmodelle führen zu den Prognosen

Das am weitesten verbreitete Instrument der Unternehmensbewertung, das sowohl bei Berenberg als auch bei M.M. Warburg eingesetzt wird, ist die sogenannte Discounted-Cash-Flow-Methode. Dabei werden die künftig erwarteten Zahlungsströme – Einnahmen und Ausgaben der Firma – auf den aktuellen Zeitpunkt abgezinst. Das ergibt den Unternehmenswert, den man dann nur durch die Zahl der Aktien teilen muss, um den angemessenen Kurs zu ermitteln.

Wenn ein Analyst ein solches Rechenmodell für ein Unternehmen erst einmal erstellt hat, genügen einige Stunden, um es auf Basis neuer Informationen anzupassen. Derartige Folgeberichte, die in der Regel acht Seiten lang sind, werden meist nach Bekanntgabe frischer Unternehmensdaten herausgegeben, aber auch bei anderen Anlässen. Das können ungewöhnliche Kursbewegungen sein – oder Ereignisse, die ein neues Licht auf die Branche werfen. Auch wenn die Analysten aller Banken nach einer ähnlichen Methodik vorgehen, können sich ihre Urteile recht deutlich unterscheiden. Denn an etlichen Stellen des Rechenweges fließt die jeweilige Sichtweise des Experten auf das Unternehmen ein.

„Hier von ‚Bauchgefühl‘ zu sprechen, wäre zu stark vereinfachend“, sagt Janssens, „aber natürlich enthalten die Schätzungen, wie ein Unternehmen sein Kapital künftig einsetzen wird und welche Gewinne es daraus erzielen dürfte, letztlich auch subjektive Elemente.“ Rapelius sieht das ähnlich: „Die Modelle sind immer nur so gut wie die Annahmen, die man trifft.“ Aus diesen mache sein Team jedoch kein Geheimnis: „Wir veröffentlichen alle Annahmen, etwa auch die Abzinsungsfaktoren künftiger Jahre, in den Analyseberichten. Das ist vollständig transparent.“

Betrachtet man die neueren Empfehlungen von Berenberg und M.M. Warburg für die beiden norddeutschen DAX-Werte und die wichtigsten Hamburger Titel, scheint es aber auch systematische Unterschiede zu geben: Warburg empfiehlt sieben der zehn Aktien zum Kauf, Berenberg nur drei. Bei den Kurszielen der beiden DAX-Titel gibt es erhebliche Differenzen mit einer entsprechenden Tendenz. Eine Erklärung dafür liefert die allgemeine Markteinschätzung der beiden Häuser: M.M. Warburg sieht den DAX zum Jahresende 2018 höher als Berenberg und auch die Prognose für das Wirtschaftswachstum in Deutschland liegt höher. „Die Annahmen unserer Volkswirte fließen in die Arbeit der Aktienanalysten ein“, sagt Laura Janssens. „So haben wir kürzlich einen Bericht über Investmentchancen in Frankreich erstellt, weil unser Chefvolkswirt Holger Schmieding die Aussichten für die dortige Volkswirtschaft positiv beurteilt.“

Bei M.M. Warburg bezahlen Unternehmen für Analysen

Für die Tatsache, dass Berenberg im vorigen Jahr in 14 Prozent der Analysen eine Verkaufsempfehlung aussprach, M.M. Warburg aber nur in drei Prozent der Berichte, gibt es allerdings noch eine andere mögliche Ursache: M.M. Warburg erstellt auch Analysen, die vom Unternehmen bestellt und bezahlt werden. „Das betrifft Firmen, die als Börsenwert so klein sind, dass ihre Aktien ansonsten bei zu wenigen Banken auf der Beobachtungsliste landen würden“, erklärt Rapelius.

Zwar kann man eine positive Empfehlung nicht kaufen. Allerdings ist eine intensivere Geschäftsbeziehung mit dem Bankhaus dem Urteil offenbar tendenziell zuträglich: Betrachtet man nur die Aktien von Unternehmen, die Warburg im vorigen Jahr für allgemeine Investmentdienstleistungen bezahlten, liegt die Quote der Kaufempfehlungen sogar bei 79 Prozent, verglichen mit lediglich 53 Prozent für die Gesamtheit der beobachteten Titel.

Das ist bei Berenberg zwar ähnlich – Aktienanalysen auf Bestellung gibt es dort nach Angaben der Bank aber nicht. „Wir sind im Hinblick auf unsere Analysen vollständig unabhängig“, so Janssens. „Wir erstellen keine Analystenberichte, die vom jeweiligen Unternehmen bezahlt werden.“ Allerdings sind die beiden Banken im Hinblick auf ihre Aktienexperten auch unterschiedlich aufgestellt: Während M.M. Warburg möglichst viele der relevanten deutschen Titel abdecken will und daher auch kleinere Unternehmen beobachtet, hat man bei Berenberg von London aus, wo bisher alle der gut 120 Analysten arbeiten, den gesamten europäischen Kontinent im Blick – und künftig verstärkt auch die USA: Aktuell hat Berenberg 97 US-Werte im Portfolio, doch diese Zahl soll sich in den nächsten zwei Jahren verdreifachen.