Hamburg.

Das Vermelden von neuen Aufträgen gehörte für Airbus viele Jahre lang fast zur Tagesroutine. So gingen im Rekordjahr 2013 netto Bestellungen über 1503 Maschinen beim europä­ischen Flugzeugbauer ein. In diesem Jahr halten sich die Fluggesellschaften mit Neubestellungen aber deutlich zurück. Bis Ende August orderten sie unterm Strich 215 Flugzeuge. Von einstigen Spitzenwerten ist Airbus weit entfernt.

„Bei Airbus kann man in diesem Jahr von einer Auftragsflaute sprechen“, sagte der Hamburger Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt dem Abendblatt. Bedenklich sei das aber nicht. Der Einschätzung stimmt Cord Schellenberg, Vizepräsident des Luftfahrt-Presse-Clubs, zu: „Ein Jahr mit ein bisschen Flaute tut nicht weh.“

Auf den ersten Blick überraschen diese Aussagen, denn in der Branche gilt die Faustregel: Wenn mehr Flugzeuge bestellt als ausgeliefert werden, geht es dem Hersteller gut. Experten sprechen dann von einer Book-to-Bill-Rate von eins und mehr als eins. Airbus will in diesem Jahr 700 Maschinen an Kunden übergeben, bis Ende August waren es 399 – von Aufträgen in dieser Größenordnung ist der MDAX-Konzern derzeit weit entfernt. Sehr wahrscheinlich wird die Book-to-Bill-Rate 2017 also unter eins liegen. Ein Zeichen von Schwäche sei das aber nicht, sondern eher eine gesunde Entwicklung, sagen die Experten.

Bei Airbus standen Ende Juli 6726 Jets in den Auftragsbüchern. Diese Orderzahl reiche, um die Produktion bei den derzeitigen Fertigungsraten für neun Jahre auszulasten, rechnet das Unternehmen vor. Beim Erzrivalen Boeing standen 5705 Maschinen in den Büchern. „Die Hersteller sitzen auf einem Riesenauftragspolster“, sagt Großbongard. Der Grund: In den vergangenen Jahren brachte Airbus mit der A320neo-Reihe und dem Großraumjet A350 zwei neue Flugzeuge auf den Markt. Boeing legte die Programme für die 737MAX-Reihe und den Langstreckenflieger 777-X auf, der etwa 2020 erstmals ausgeliefert werden soll. Alle Maschinen zeichnen sich durch moderne und sparsame Triebwerke aus, die den Treibstoffverbrauch und die Betriebskosten senken sowie die Reichweite erhöhen sollen. Die Airlines deckten sich über die Maßen ein, wollten sich ihre Lieferoptionen sichern und preschten daher mit Bestellungen vor.

Niedriger Treibstoffpreis bremst den Ordereingang

Weil jetzt neue Programme fehlen und die Airlines teilweise Jahre warten müssen, bis Bauplätze frei werden, halten sie sich mit neuen Aufträgen zurück. „Der Schwerpunkt liegt derzeit darauf, Bestellungen abzuarbeiten und ausgelieferte Flugzeuge in die Flotte zu integrieren“, sagt Großbongardt. Aus Sicht von Schellenberg fehlt zudem aufgrund der moderaten Ölpreise der große Druck für die Airlines, ältere und weniger rentable durch moderne Maschinen zu ersetzen.

Bei den Langstreckenfliegern ist vor allem der A350 mit bislang gut 750 Bestellungen in den Büchern stark nachgefragt. Für das größte Passagierflugzeug der Welt sieht Großbongardt dagegen schwarz: Zwar stehen noch rund 100 A380 in den Auftragsbüchern, aber vermutlich sind darunter auch einige Karteileichen. Airbus drosselte Ende Juli die Produktion zum zweiten Mal in einem Jahr. Statt 27 Maschinen wie 2015 sollen von 2019 an nur noch acht der Riesenjets pro Jahr gebaut werden. Neue Bestellungen erwartet Großbongardt nicht, und er hält sogar ein Aus für den Riesenflieger für möglich, wenn der langjährige Airbus-Verkaufschef John Leahy in Kürze in den Ruhestand geht. Der Amerikaner hatte sich massiv für den Jet eingesetzt, zuletzt aber keine Order mehr eingesammelt: „Nach dem Ausscheiden von Leahy wird man im Frühjahr 2018 bei Airbus offen über das Programm diskutieren.“

Längst beschlossen ist der Hochlauf der Produktion bei der A320-Familie. Vor zwei Jahren kündigte der Flugzeugbauer an, die monatliche Rate von seinerzeit 43 Maschinen der A320-Familie auf 60 Stück bis Mitte 2019 zu steigern. In Hamburg wird etwa die Hälfte dieser Maschinen gefertigt. Dafür bekommt das Werk auf Finkenwerder eine vierte Endmontagelinie. Die erste Station davon ist vor Kurzem an den Start gegangen, sagte eine Unternehmenssprecherin auf Abendblatt-Anfrage. An der Station werden zum Beispiel Bordküchen und -toiletten in den Rumpfsegmenten positioniert und Vorbereitungsarbeiten für die Elektrik gemacht.

Ein großer Jobaufbau ist mit der vierten Endmontagelinie auf Finkenwerder allerdings nicht geplant. Bisher arbeiten an ihr rund 100 Beschäftigte, die intern aus anderen Programmen rekrutiert wurden. „Voll operativ“ solle die Linie wie geplant im vierten Quartal dieses Jahres sein, sagte die Sprecherin. Dann gilt es, die Aufträge für die mehr als 5500 Maschinen der A320-Familie abzuarbeiten. „Die Beschäftigung in Hamburg ist langfristig gesichert“, sagt Großbongardt.

2017 liegt Konkurrent Boeing im Bereich der sogenannten Single-Aisle-Maschinen – Jets mit einem Mittelgang, die vor allem auf Kurz- und Mittelstrecken eingesetzt werden – allerdings vorn. Der überwiegende Teil der etwa 420 Bestellungen für die 737MAX-Reihe gingen bei Boeing in diesem Jahr ein. Die Gründe: Die Airlines hatten einen Nachholbedarf, weil das Programm deutlich später als die A320neo-Reihe aufgelegt wurde. Und Boeing konnte im Gegensatz zu Airbus kurzfristigere Liefertermine anbieten, sagt Großbongardt: „Stückzahlmäßig spielt die Musik im Single-Aisle-Programm. Es bleibt das Brot-und-Butter-Geschäft.“

Ernsthafte Konkurrenz gibt es für die beiden Platzhirsche kaum. Zwar hat der kanadische Flugzeugbauer Bombardier im vergangenen Jahr erstmals die CS100 und ihre größere Schwester CS300 an Airlines übergeben. Die Stückzahlen bleiben aber bescheiden. Ende Juni standen 14 ausgelieferten Maschinen einem Auftragspolster von 346 Exemplaren gegenüber. „In den Maßstäben von Airbus und Boeing ist das Kleinkram“, sagt Großbongardt. Allerdings könnte es für die kleinen Modelle der A320-Familie fatale Konsequenzen haben: „Die C-Series könnten für den kleinen A319 von Airbus der Todesstoß sein.“ Bisher gibt es für die Neo-Variante mit spritsparenden Triebwerken des A319 gerade einmal 50 Bestellungen. Das Problem: Als kleinstes Mitglied einer Flugzeugfamilie – der A318 wird ohnehin nicht mehr gebaut – schleppt der A319 immer das hohe Grundgewicht der größeren Modelle mit sich. Das erhöht die Betriebskosten wie den Treibstoffverbrauch und treibt die Landeentgelte nach oben.

Jets aus Russland und China sind keine ernsthafte Gefahr

Für Fluglinien in Afrika, die neue Strecken aufbauen wollen, seien die 120 bis 140 Passagiere fassenden Bombardier-Jets hingegen ideal, sagt der Luftfahrtexperte. Die in den Markt drängenden Hersteller Suchoi aus Russland und Comac aus China sieht er dagegen nicht als ernsthafte Gefahr, weil sie technisch den Marktführern unterlegen seien.

Für die Zukunft ist Großbongardt bezüglich der Auftragslage verhalten optimistisch: „Auch 2018 wird eher ein ruhiges Jahr. Wenn konjunkturell nichts dazwischenkommt, könnten die Airlines ab 2019 wieder verstärkt einkaufen gehen.“ Schellenberg sieht die Branche grundsätzlich auf stabilem Wachstumskurs. Airbus und Boeing erwarten in den kommenden 20 Jahren einen Bedarf von 35.000 bis gut 40.000 Flugzeugen. „Das sind eindrucksvolle Zahlen, die erreichbar sind“, sagt Schellenberg. „Allerdings kann es bei den Bestellungen pro Jahr zu Schwankungen zwischen 500 und 1500 Stück kommen.“