Hamburg. Der Hamburger Unternehmer feiert heute Geburtstag, verhilft der Firma seiner Familie zum Erfolg und führte jahrelang Beiersdorf.
Im Flur die alten Stiche von Hamburg, im Büro ein hölzerner Bücherschrank: Das mächtige Möbel reicht bis zur Decke, Kürschners deutscher Literaturkalender lehnt neben dem Werk „Chinas Jahrhundert“ und einem Ratgeber zu Joint-Ventures in Japan. Die Werke zeigen das breite Wissen des Kulturmenschen und Kaufmanns Hellmut Kruse. In dunklem Anzug und gestreifter Krawatte sitzt er hier – wie jeden Tag – am Schreibtisch. Das Büro in seiner Handelsfirma Wiechers & Helm ist Kruses zweites Zuhause, nach wie vor. Der Hanseat, der Hamburgs Wirtschaftsgeschichte kennt wie kaum ein zweiter Unternehmer, wird heute 90 Jahre alt.
Das Alter sieht man ihm nicht an, und es spricht auch nicht aus seinen Worten. Mit wachem Blick, kritisch, reflektiert, schaut Kruse zurück auf ein langes Leben. Auf knapp 30 Jahre im Spitzenmanagement von Beiersdorf, davon zehn Jahre (bis 1989) als Vorsitzender des Vorstands, in denen er die Internationalisierung vorantrieb. Auf knapp 70 Jahre bei Wiechers & Helm, einem der Hamburger Unternehmen, die mit Geschäften in Übersee zum Reichtum der Stadt beigetragen haben. Auf die Zeit als Präsident des Übersee-Clubs, der nächste Woche einen Empfang für Kruse gibt. Auf die Mitarbeit in diversen Aufsichtsräten, in Spitzenämtern bei der Handelskammer. Auf 90 Lebensjahre in Hamburg. Als Spross der Familie, aus der mit seinem Vater Hans E.B. Kruse („mein Vorbild“) nach Kriegsende der erste Wirtschaftssenator der Stadt hervorgegangen war.
Mit einem Sprung vom Lkw rettete er sich vor einer mehrjährigen Gefangenschaft
Hellmut Kruse blickt nicht nur auf ein langes Leben zurück. Er lebt es auch so intensiv, so aufgeschlossen und mit so vielen Interessen erfüllt wie wenige andere Menschen. Und er hat Glück, immer wieder: Im Zweiten Weltkrieg kommt er als 16-Jähriger zur Heimatflak, später als Soldat rettet er sich mit einem Sprung vom Lkw vor einer mehrjährigen Gefangenschaft in Frankreich.
Über seine Schulzeit am Johanneum schreibt er in seinem Buch „Wagen und Winnen“, einer vor zehn Jahren erschienenen Autobiografie, mit einem Augenzwinkern: „Zwar bringt es meist höhere Sympathiewerte, wenn man von sich sagen kann, kein guter Schüler gewesen zu sein. Aber bei mir war das nicht der Fall. In meinem Abiturzeugnis stand jedenfalls: ,Von Anbeginn seiner Schulzeit an war Kruse ein ausgezeichneter Schüler. Seine Haltung und Führung waren schlechthin vorbildlich.“
Einziger Rückzugsort war seine Bettstelle im Badezimmer
In den 40er-Jahren erlebt Kruse wie so viele Zeitgenossen ein Leben in ärmlichen Verhältnissen. Von 1943 an wohnt er für einige Jahre bei der Großmutter in Reinbek, ohne eigenes Zimmer. Einziger Rückzugsort ist seine Bettstelle im Badezimmer der fünfköpfigen Familie. Vielleicht auch als Folge dieser Jugend in schwerer Zeit kann Kruse die aktuelle Diskussion über „Arm“ und „Reich“ in unserer Gesellschaft kaum nachvollziehen. „Es ist grotesk, welche überzogenen Vorstellungen heute herrschen“, sagt der Kaufmann kopfschüttelnd. Heute herrsche ein Anspruchsdenken ohne Unterscheidungen. Handys und Fernsehen in Flachbildqualität seien ein Muss für jeden. Dabei werde die Armutsgrenze immer weiter erhöht, sagt Kruse: „Dabei leben wir im Vergleich mit den meisten anderen Ländern in Deutschland heute doch in paradiesischen Zuständen.“
Nicht nur im zerstörten Deutschland, auch auf seinen Reisen erlebt Kruse Elend und Entbehrung. Als frisch Verlobter fliegt er von 1950 an für die Handelsfirma seines Vaters in alle Welt. Der Traum des promovierten Literaturwissenschaftlers, sich als Verleger selbstständig zu machen, ist mit dem Engagement für Wiechers & Helm ausgeträumt. Der erste Flug des jungen Außenhandelskaufmanns nach Pakistan mit einer Superconstellation dauert 18 Stunden. Das Hotelzimmer in Karatschi teilt sich Kruse mit einem laut schnarchenden Inder.
Ceylon, Burma, Singapur, Kalkutta
In der Handelsstadt am arabischen Meer verkauft er Wollschals, Eisenwaren und Haushaltsartikel. Nächste Stationen sind Ceylon, Burma und Singapur. In Kalkutta sieht er Kühe vor dem Hotel herumstreunen, „denen ich ihre Heiligkeit nicht ansehen konnte“. Das Hamburger Abendblatt schreibt in seiner Ausgabe vom 12. März 1951: „Von dem Flüchtlingselend, das in Karatschi herrscht, nachdem bei der Teilung Britisch Indiens wechselseitig Millionen von Hindus und Mohammedaner ausgetrieben wurden, von Bombay, wo man sich im schönsten Hotel nicht satt essen konnte, von dem zerstörten Rangun (...) berichtet höchst anschaulich Dr. H. Kruse, der als jüngstes Mitglied des Ostasiatischen Vereins erst vor wenigen Tagen aus Südasien zurückgekehrt war.“
Die Reise in den Osten war auch geschäftlich ein Erfolg: Kruses Verkaufsbemühungen sorgten dafür, dass sich der Umsatz von Wiechers & Helm 1951 gegenüber dem Vorjahr verdoppelte. Doch allmählich begannen die Länder in Asien, selber Fabriken für Textilien oder Werkzeuge aufzubauen. Fortan waren sie nicht mehr auf die Exporte aus Deutschland angewiesen. Kruse orientierte sich nach Afrika, „dem auch damals am wenigsten industrialisierten Teil der Erde“. Anfang 1958 reist er in den Senegal, nach Ghana, Nigeria, er setzt über den Kongo-Fluss und ist fasziniert vom Ort Usumbura in Zaire, „mit seiner bezaubernden Lage am Tanganjika See“.
Mit seiner Familie und Freunden bleibt er über Handy und Skype in Kontakt
Auf diesen Reisen war die Kommunikation mit Hamburg nur mit Briefen möglich. Als „fabelhafte zivilisatorische Errungenschaft“ betrachtet Kruse heute die Möglichkeit, per Handy ständig mit Firma und Familie in Kontakt zu sein. Oder per Skype jederzeit weltweit telefonieren zu können.
Die internationale Erfahrung, die so gewonnene „Urteilsfähigkeit und Neutralität“ vielen Dingen gegenüber haben Kruse zu einem begehrten Kaufmann werden lassen. Auch für den einzigen DAX-Konzern in Hamburg, für Beiersdorf: Nach einer von Kruse selber vorgeschlagenen unbezahlten Probezeit – der Junior wollte sich selber bewähren, weil sein Vater damals im Aufsichtsrat von Beiersdorf saß – verantwortete er seit den 60er-Jahren das Auslandsgeschäft des Konzerns. Die eigene Firma wurde zwischenzeitlich von Geschäftsführern geleitet.
Die Aufgabe des Mittdreißigers war der Rückerwerb der Vorkriegs-Warenzeichen in vielen wichtigen Märkten. Vor allem ginge es um Nivea, der bekanntesten Hautpflegemarke der Welt, deren Name sich vom lateinischen nix, nivis – der Schnee ableitet. Diese Markenrechte waren im Krieg von den Siegermächten in aller Welt beschlagnahmt und zum Teil auch an private Firmen weiterveräußert worden. Für den Rückkauf der Rechte in Ägypten zahlte Beiersdorf 1963 beispielsweise 50.000 Mark. 1977 gab es eine entsprechende Vereinbarung mit Ländern wie Bangladesch, Malaysia, aber auch Malta, Barbados oder Jamaika. Selbst wenn es sich jeweils nur um kleine Märkte handelte, es gab Handlungsbedarf für das weltweite Image von Nivea: So zeigte eine typische Anzeige dieser Jahre eine Eingeborenenhütte in Mittelamerika mit dem Plakat einer großen Nivea-Dose und der Unterschrift „Die deutsche Botschaft“.
Kruse: Heute geht es darum, möglichst flexible Arbeitsplätze zu schaffen
Auf Hauptversammlungen von Beiersdorf ließ es sich Kruse nicht nehmen, zu aktuellen sozialpolitischen Themen Stellung zu nehmen. So moniert er 1984, dass die Ausweitung der Urlaubsansprüche in Deutschland (von drei Wochen in den 60er-Jahren auf fünf Wochen 1981) dazu führten, dass die Beschäftigten nur noch die Hälfte des Jahres arbeiten müssten, wenn man Wochenenden, Feiertage und Krankheiten berücksichtigte. „Das würde ich heute nicht mehr kritisieren“, betont Kruse. So wie das Abstempeln in den meisten Unternehmen längst zur Vergangenheit gehöre, gehe es heute darum, möglichst flexible Arbeitsplätze zu schaffen.
Nach wie vor ist der Hanseat überzeugt, dass die Meinung der Wirtschaft gegenüber der Politik ein Gewicht haben muss, dass das Engagement der Verbände zum Wohlstand in Hamburg beigetragen hat. Sein Sohn Hans Fabian Kruse folgt seiner Überzeugung: Er ist Präsident des AGA, des Norddeutschen Unternehmensverbands Groß- und Außenhandel. Mit dem 56-jährigen Junior arbeitet der Jubilar zugleich auch bei Wiechers & Helm zusammen. Seit 90 Jahren wird die Gesellschaft von der Familie geführt.
Meinungsverschiedenheiten zwischen Vater und Sohn habe es nie gegeben
Der Senior kümmert sich vor allem um Controlling und Steuern. „Vätern fällt es oft schwer, ihren Söhnen die Freiheit zu geben, eigene Ideen umzusetzen“, sagt Kruse. Doch durch die Zeit außerhalb der eigenen Firma sehe er die Dinge anders. „Es hilft, zu treffende Entscheidungen mit vier Augen zu betrachten.“ Und das solle, wenn es nach ihm ginge, auch so bleiben: „Meinungsverschiedenheiten hat es bei uns zum Glück nie gegeben, sodass ich hier wohl auch nicht herauskomplimentiert werde“, sagt Kruse lächelnd.
Doch auch für einen Kaufmann, den es nach wie vor jeden Tag in sein Büro am Gänsemarkt zieht, gibt es noch andere Dinge im Leben. Seine Wohnung in Rotherbaum, in der Kruse seit dem Tod seiner Frau Clarita vor wenigen Jahren alleine lebt, steht wie die Firma voll von Büchern. Dankbar für die geistige Fitness, die dem 90-Jährigen erhalten geblieben ist, widmet er seine freie Zeit der Literatur. Aber noch mehr gehört die Liebe des Hamburgers der Musik. Vor allem die italienische Oper fasziniere ihn, sagt Kruse. Die nächsten Karten hat er schon. Für Bellinis „Romeo und Julia“ in Lübeck.