Hamburg. In Hamburg gibt es rund 7000 alleinerziehende Arbeitslose. Für viele ist eine Teilzeit-Ausbildung fast die letzte berufliche Chance.

Früher, als sie ein kleines Mädchen war, hat sie davon geträumt, Dokumentarfilmerin zu werden. Sie wollte die Welt sehen, reisen. Was erreichen. Später, nach der Realschule, wäre sie gerne Tierarzthelferin geworden. Weil sie aber keinen Ausbildungsplatz fand, begann sie, sich für eine Lehre in der Landwirtschaft zu interessieren und auf einem Hof zu arbeiten. Zwei Jahre lang. Bis sie merkte, dass sie mehr will. Mehr lernen, mehr leisten. Mehr erreichen. Also ist sie mit Anfang 20 noch mal zur Schule gegangen, um das Abi nachzuholen. Jeden Tag, nach ihrem Job, ist sie zur Abendschule gefahren. Hat von der Zukunft geträumt.

Doch dann, irgendwann, ist Alida Sinah Hollingworth, 25, falsch abgebogen. Hat den falschen Weg genommen. Eine falsche Entscheidung getroffen. Und ist in der Sackgasse gelandet. Allein. Alleinerziehend. Ohne Job, ohne Ausbildung. Ohne Zukunft. Mit Kind.

AE. AE wie „Allein-Erziehende“. Unter dieser Abkürzung tauchen Menschen wie Alida Sinah Hollingworth, die von allen nur Sinah gerufen wird, in der Arbeitslosenstatistik auf. Es sind Menschen ohne Job. Meistens ohne Perspektive. In Hamburg bekommen mehr als 90 Prozent von ihnen Arbeitslosengeld II, das Hartz IV genannt wird. Ein Existenzminimum. In neun von zehn Fällen ist der alleinerziehende Elternteil die Mutter. Und deren Chancen sind wesentlich schlechter als die von alleinerziehenden Väter: Diese sind in der Regel höher gebildet, arbeiten eher in Vollzeit, haben ein höheres Erwerbseinkommen und sind daher weniger abhängig von staatlichen Unterstützungsleistungen.

Sinah ist 2014 Mutter geworden. Da war sie 23 Jahre alt. Und alleine. Mit ihrem Freund war da schon wieder Schluss. Wegen Drogen und Knast und so, sagt sie. Wenn sie über den Vater ihrer Tochter Josephine spricht, ist sie nicht frustriert, nicht verzweifelt. Sondern verärgert, manchmal richtig sauer. Weil sie sich so in einem Menschen getäuscht hat. Weil sie dadurch alles kaputt gemacht hat. Die Schule geschmissen, eineinhalb Jahre vor dem Abschluss. Dem Abi.

Sinah will anderen Alleinerziehenden Mut machen

Von 72.139 Arbeitslosen in Hamburg sind 7035 Alleinerziehende. Jeder fünfte von ihnen hat keinen Schulabschluss. Fast 70 Prozent haben keine abgeschlossene Ausbildung. So der Stand im September 2015. Es ist der erste Monat, in dem Alida nicht mehr in der Statistik auftaucht. Es ist der Monat, in dem sie eine Ausbildung zur Restaurantfachfrau begonnen hat. Es ist der Monat, in dem sich ihr Leben geändert hat. Sinah sitzt an einem Tisch des Stadtteilcafés Steilshoop und trinkt einen Kaffee. Sie fühlt sich ein bisschen unwohl, findet es „merkwürdig“, ihren Kollegen bei der Arbeit zuzuschauen und sich bedienen zu lassen. Denn sonst ist sie eine von ihnen. Sonst rennt sie zwischen den Tischen und Stühlen hin und her, nimmt Bestellungen entgegen, serviert Frühstück und Mittagessen. Heute ist sie Gast, ganz kurz. Eigentlich ist sie krankgeschrieben, kommt gerade vom Arzt. Den Termin wollte sie trotzdem wahrnehmen. Um ihre Geschichte zu erzählen und anderen Mut zu machen. Anderen Müttern. Alleinerziehenden.

Die Zahl der Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern hat sich von 1996 bis 2014 bundesweit von 1,3 Millionen auf gut 1,6 Millionen erhöht. In jeder fünften Familie leben Kinder nur mit Mutter oder Vater. In Hamburg wächst sogar jedes vierte Kind in einer Einelternfamilie auf. Im Jahr 2014 gab es in Hamburg 70.000 alleinerziehende Elternteile mit zusammen 99.000 Kindern. 2005 waren es 63.000 alleinerziehende Elternteile und 84.000 Kinder. Einer Studie der Bundesagentur für Arbeit zufolge waren alleinerziehende Arbeitslose durchschnittlich 37,9 Wochen ohne Job, bis sie eine neue Anstellung fanden. Bei allen Arbeitslosen sind es knapp 24 Wochen.

Sinah hat Glück gehabt. Sie ist noch während der Elternzeit vom Jobcenter, das für die Belange der Hartz-IV-Empfänger zuständig ist, zu einem Informationsabend eingeladen worden und hat dort eine Mitarbeitern von Alraune kennengelernt. Diese gemeinnützige Gesellschaft hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit öffentlichen Mitteln sozial benachteiligten Menschen Ausbildung und Arbeit zu vermitteln. Dafür betreibt der Beschäftigungsträger unter anderem ein eigenes Café in Steilshoop, in dem überwiegend alleinerziehende Mütter eine Ausbildung zur Restaurantfachfrau, Köchin oder Hauswirtschafterin machen können. In Teilzeit. 30 Stunden pro Woche. Denn nur so können die meisten Beruf und Kind miteinander verbinden. Nur so können sie eine Ausbildung machen. Nur so können sie den Kreislauf der Arbeits­losigkeit durchbrechen. Nur so haben sie eine Chance.

Sinah konzentriert sich auf das Heute

„Natürlich haben unsere 7000 gemeldeten Alleinerziehenden ganz besondere Herausforderungen zu bewältigen“, sagt Sönke Fock, Chef der Hamburger Agentur für Arbeit. Trotzdem sei der Anteil von 4400 oder fast 70 Prozent an Ungelernten deutlich zu hoch. „Betroffene unterschätzen die lebenslange Wertigkeit einer Berufsausbildung leider nur allzu leicht. Mit fatalen Folgen für die persönliche Lebens- und Berufsbiografie und natürlich auch für die Lebenslage des Kindes“, sagt Fock. Schließlich minimiere eine Ausbildung die Gefahr eines sozialstaatlichen Dauerbezugs erheblich. Schließlich verdienten ausgelernte Fachkräfte im Schnitt 500 Euro monatlich mehr als eine Hilfskraft.

Dreieinhalb Jahre dauert die Ausbildung von Sinah in Teilzeit, mit der Option auf Verkürzung. Ob Sinah das jedoch in Anspruch nimmt, weiß sie jetzt noch nicht. „Im Moment bin ich einfach froh, hier einen sicheren Job zu haben. Ich kann mir nicht vorstellen, das früher zu beenden. Schließlich weiß ich nicht, was danach kommt“, sagt Sinah und meint: Nach der Zeit bei Alraune. Denn übernommen werden können die wenigsten der Azubis, schließlich fangen jedes Jahr zehn neue Auszubildende an, für die Platz sein muss. Eine, die es geschafft hat, ist Melanie Erichsen-Brandes, 35. Sie hat 2012 im Café angefangen. Als Ein-Euro-Jobberin im Rahmen einer AGH, einer Arbeitsgelegenheit, die Hartz-IV-Empfänger wie Melanie Erichsen-Brandes bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt unterstützen soll. 2013 hat sie dann eine Ausbildung als Restaurantfachfrau im Café begonnen, die sie aufgrund guter Leistungen auf 2,5 Jahre verkürzen konnte und nach dessen Ende sie als Serviceleiterin übernommen wurde. Inzwischen ist sie sogar stellvertretende Restaurantleiterin und Ausbilderin – und verheiratet. Nicht mehr alleine. Alleinerziehend.

Sinah denkt nicht oft an die Zukunft. Nicht ans Gestern. Sondern konzentriert sich auf das Heute. Auf ihren Job. Auf ihre Tochter. Von 8 bis 14 Uhr ist sie im Café, danach fährt sie mit dem Bus von Steilshoop nach Bramfeld und kümmert sich um Josephine, die vormittags von Sinahs Mutter betreut wird. Einen Kindergartenplatz hat sie nicht. Nicht bekommen. Sinah hat gehört, dass man eigentlich Anspruch darauf hat. Sich vielleicht sogar einklagen könnte. Mehr weiß sie aber nicht. Sie hat keine Zeit, sich darum zu kümmern. Keine Muße. Und keine Energie. Weil sie ihre ganze Kraft für die Ausbildung und Josephine braucht.

Josephine, die als kleiner Säugling immer gehustet hat. Die nie zugenommen hat. Die schwer krank ist. Vier Wochen war Sinah mit der damals zwei Monate alten Josephine im Krankenhaus. Dann waren die Tests abgeschlossen, die Untersuchungen beendet, die Diagnose gestellt: Mukoviszidose. Eine erbliche Stoffwechselerkrankung, bei der die Bildung verschiedener Körperflüssigkeiten gestört ist. Bei der ein zäher Schleim die kleinen Äste der Bronchien und die Ausführungsgänge der inneren Organe verstopft. Bei der die Bauchspeicheldrüse nicht richtig arbeitet, die Kinder Medikamente brauchen, Krankengymnastik benötigen. Dreimal am Tag inhalieren müssen. Und eine geringere Lebenserwartung haben.

Sinah hat viel über die Krankheit gelesen. Gelernt. Lernen müssen. „Geht ja nicht anders“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. Sie sagt, dass sie zu müde sei, um sich Sorgen zu machen oder zu verzweifeln. Sie will sich lieber auf das Gute konzentrieren, nicht auf das Schlechte. Sie will die Krankheit vergessen. Manchmal klappt das sogar. Meistens, wenn sie bei der Arbeit ist. So viel zu tun hat, dass keine Zeit zum Nachdenken bleibt.

243 Euro Ausbildungsgehalt bekommt Sinah. Außerdem Hilfe zum Lebensunterhalt, weil ihr Verdienst unterhalb des Existenzminimums liegt. Kein Einzelfall: Obwohl rund 64 Prozent der alleinerziehenden Mütter 2014 erwerbstätig waren, sind 19,1 Prozent von ihnen auf Arbeitslosengeld I beziehungsweise Leistungen aus Hartz IV angewiesen. Sinah erhält zudem noch Kindergeld und Unterhalts­zuschuss. Weil ihr Ex-Freund keinen Unterhalt für das Kind zahlt. Nicht will? Nicht kann? Sinah weiß es nicht. Sie hat keinen Kontakt zu Josephines Vater. So wie zu ihrem eigenen Vater, der die Familie verlassen hat, als sie 13 Jahre alt war.

Manchmal stellt sich Sinah vor, träumt davon, dass sie noch mal jemanden kennenlernt. Vielleicht sogar noch ein Kind bekommt. Mit einem neuen Partner. Irgendwann, wenn sie fertig ist mit der Ausbildung. Schließlich will sie den Fehler nicht noch einmal machen. Sich nicht noch einmal alles verbauen. Versauen. Im Gegenteil. Sie will mehr. Mehr lernen, mehr leisten. Mehr, immer mehr. Nur nicht aufhören. Nicht stehen bleiben. Sondern weitermachen, weiterkommen. Auch nach der Ausbildung bei Alraune. Oder gerade dann. Sie würde gerne noch eine Ausbildung zur Hotelfachfrau machen. Um noch mehr Möglichkeiten zu haben. Noch bessere Chancen. Sie will nicht mehr von der Zukunft nur träumen. Sondern sie planen.