Hamburg/Brunsbüttel. Stundenlange Wartezeiten: Hamburgs Hafenwirtschaft ist erbost über den Zustand der weltweit meistbefahrenen künstlichen Wasserstraße.
Es ist immer die gleiche kurze Nachricht in Form einer E-Mail. Überschrieben mit „To whom it may concern“ – Wen immer es betrifft – werden die aktuellen Wartezeiten für die Einfahrt in den Nord-Ostsee-Kanal aufgeführt. Bis zu acht Stunden mussten die Besatzungen größerer Schiffe am Donnerstag an der Elbe vor den Brunsbütteler Schleusen einkalkulieren, bis zu sechs Stunden am Freitag. Schiffe mit mehr als 125 Metern Länge, 20 Metern Breite oder mehr als 6,50 Metern Tiefgang können jeweils nur durch die beiden großen Schleusen an der Nord- und der Ostseeseite in den Kanal hinein- und dort wieder herausfahren. Speziell vor Brunsbüttel erfordert das seit drei Wochen wieder sehr viel Geduld.
„Bis zum Herbst sollen beide großen Schleusen in Brunsbüttel wieder im regulären Betrieb sein. Dann darf aber auch wirklich nichts mehr schiefgehen“, sagt Jann Petersen, Geschäftsführer der Agentur United Canal Agency (UCA) in Kiel, die für einen großen Teil aller dort fahrenden Schiffe die Passage durch den Nord-Ostsee-Kanal organisiert. Täglich unterrichtet UCA per E-Mail seine Kunden und viele andere Unternehmen, die es interessiert – „To whom it may concern“ – über die Lage am Kanal. Die ist in diesen Tagen erneut besonders kritisch.
Mitte Januar hatte ein Offshore-Versorgungsschiff das kanalseitige Tor der großen Südschleuse so gerammt, dass es drei Wochen lang repariert werden musste. Am 20. März kollidierte der 131 Meter lange Frachter „Saint George“ beim Einfahren in die große Nordschleuse mit deren kanalseitigem Tor. Die Schleusenkammer ist vorerst komplett außer Betrieb. „Anfang Mai kommt unser Ersatztor von einer Werft in Kiel, dann wird es in die Nordkammer eingebaut“, sagt Thomas Fischer vom Wasser- und Schifffahrtsamt Brunsbüttel. Im Normalfall dauert das rund eine Woche. „Anschließend sollen die noch ausstehenden Arbeiten an den Schienen des elbseitigen Tores der großen Südschleuse ausgeführt werden. Das dauert voraussichtlich bis September“, sagt Fischer. Dann wären die beiden großen Schleusen, auf die die Handels- wie auch die Kreuzschifffahrt besonders angewiesen ist, auch in Brunsbüttel wieder regulär betriebsbereit – wenn nichts dazwischenkommt, was die prekäre Situation noch verschärfen könnte. Die Brunsbütteler Schleusenwächter haben nicht nur chronisch zu wenig Personal, es mangelt auch an brauchbaren Ersatztoren.
Der Nord-Ostsee-Kanal (NOK) – in der internationalen Schifffahrt Kiel Canal genannt – ist mit 32.600 Schiffspassagen im vergangenen Jahr die meistbefahrene künstliche Wasserstraße der Welt. 99 Millionen Tonnen Güter und Zehntausende Kreuzfahrtpassagiere fuhren quer durch Schleswig-Holstein von der Nord- zur Ostsee oder in die Gegenrichtung. Für Hamburgs Hafen ist das Bauwerk aus der Kaiserzeit die unverzichtbare Anbindung für die Zubringerschiffe in die Anrainerstaaten der Ostsee. „Wir hatten im vergangenen Jahr durchaus keinen Rückenwind“, sagte dieser Tage Klaus-Dieter Peters, Chef des Hamburger Hafenlogistikkonzerns HHLA, bei der Vorlage der Jahreszahlen für 2014. Peters meinte damit nicht nur die noch ausstehende Erweiterung der Elbfahrrinne und Mängel beim Ausbau der Güterbahnverbindungen rund um Hamburg, sondern auch die Dauerbaustelle NOK.
Der Kanal ist ein einschlägiges Beispiel dafür, welch hoher Preis für Versäumnisse bei der Erneuerung von Verkehrswegen letztlich zu entrichten ist. Jahrzehntelang wurde das Bauwerk auf Verschleiß gefahren. Nach der deutschen Einheit genoss die Sanierung des NOK angesichts der notwendigen Verkehrsprojekte in der ehemaligen DDR keine Priorität. Auch waren die Gütermengen am Kanal in den 1990er-Jahren relativ gering. In den 2000er-Jahren aber boomte die Containerschifffahrt, damit wuchs auch die Zahl der Kanalpassagen vor allem von größeren Schiffen, die auf die großen Schleusenkammern mit ihren antiquiert wirkenden Schiebetoren angewiesen sind.
Schließlich setzte sich die Erkenntnis durch, dass der Kanal dringend eine Grundüberholung benötigt. Bis zur Mitte des kommenden Jahrzehnts will der Bund dafür mehr als eine Milliarde Euro zur Verfügung stellen. 2012 setzte der damalige Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) den ersten Spatenstich für eine dritte große Schleusenkammer in Brunsbüttel. Sie soll von Ende 2020 an als Entlastungsschleuse dienen, um dann die Nord- und die Südschleuse komplett erneuern zu können. Wie dringend überfällig das ist, zeigte sich Anfang 2013: Da kollabierten die große Nord- und die Südkammer zeitgleich an Materialermüdung. Der Kanal war für größere Schiffe zwei Wochen lang gesperrt.
So schlimm wie vor zwei Jahren ist die Lage diesmal nicht, schlecht aber aus Sicht der Schifffahrt gleichwohl. „Havarien wie jene jüngst in Brunsbüttel können immer geschehen. Aber speziell an den Brunsbütteler Schleusen fällt das eben auch zusammen mit Materialermüdung bei den beiden alten großen Schleusenkammern und mit den beginnenden Bauarbeiten für die dritte große Schleuse“, sagt Timm Ulrich Niebergall, Deutschland-Chef der dänischen Reederei Unifeeder. Mit rund 1800 Passagen 2014 und voraussichtlich 2000 in diesem Jahr ist Unifeeder der wichtigste Einzelkunde des NOK. „Wir müssen immer bedenken: Mit dem Zustand des NOK steht und fällt auch die gesamte Leistungsfähigkeit des ,Produkts Hafen Hamburg‘.“
Die Schifffahrtsbranche steht unter hohem Druck. Viele Frachter auf den Fernlinien fahren mit teils tagelangen Verspätungen. Auch Hapag-Lloyd-Chef Rolf Habben Jansen kritisierte zu Beginn des Jahres die mangelnde Fahrplantreue seines eigenen Unternehmens und die von dessen Partnern in der Allianz G6. Die Spielräume für die Fahrten der Zubringerschiffe – der sogenannten Feeder – werden dadurch enger. Hinzu kommen Mängel an der Infrastruktur wie jene am NOK. Wartezeiten vor den Schleusen, Sonderschichten auf den Terminals für verspätete Feeder, all das kostet zusätzliches Geld. Die Zubringerreedereien versuchen, die Kosten wo immer möglich an ihre Kunden weiterzugeben – aber tunlichst nicht öffentlich darüber zu sprechen. Denn das könnte ja der Konkurrenz auf Bahn und Straße unwillkommenen Auftrieb geben.
Klar ist allerdings: Der NOK bleibt für die Schifffahrt ein unkalkulierbares Risiko. „Für uns mutet der Zustand speziell der Brunsbütteler Schleusen im Moment an wie ein Ritt auf der Rasierklinge“, sagt Unifeeder-Manager Niebergall. „Würde ausgerechnet jetzt jemand auch noch die große Südschleuse rammen, wäre der Kanal für große Schiffe wieder komplett dicht.“