Das Ende der 35-Millimeter-Filme bedeutete das Aus für viele Lichtspielhäuser. Jörg Wagner aus Neu Wulmstorf macht weiter – mit moderner Technik und Top-Service.

Hamburg. Jörg Wagners Arbeitszimmer zeigt, dass es mal eine Zeit vor der Digitalisierung gab. Man fühlt sich an die 1970er-Jahre erinnert. Damals, als Wagners Eltern hier im Obergeschoss des kleinen Kinos in Neu Wulmstorf südlich von Hamburg die riesigen Filmrollen auf die Spulen legten. Im Saal saß das Publikum und wartete auf Kassenschlager wie „Der weiße Hai“. Die Filmposter von damals hängen noch an den Wänden. Mehr als 50 Jahre nachdem der Kinosaal mit damals 400 Sitzplätzen gebaut wurde. Und auch die alte Vorführmaschine gibt es noch. Daneben die Moderne: Ein Digitalprojektor und ein Laptop.

Man könnte Jörg Wagner wegen der Einrichtung seines Arbeitsplatzes für einen Nostalgiker halten. Aber tatsächlich gehört er zu den deutschen Kinobesitzern, die es gewagt haben, vor einigen Jahren in moderne Technik zu investieren. Und nun kann er digital Filme vorführen. Eine Revolution in der Branche, die allerdings nicht für jedes Kino so positiv endete wie für Wagner. Allein zwischen Juni 2008 und Juni 2009, zu Beginn der Digitalisierung, verschwanden 75 Kinosäle in Deutschland. Mittlerweile hat sich die Situation beruhigt.

„Die Digitalisierung in Deutschland ist zu 99 Prozent abgeschlossen“, sagt Felix Bruder, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Kino – Gilde deutscher Filmkunsttheater. In dem Verband sind 330 vornehmlich kleinere Lichtspielhäuser organisiert. Sie verfügen zusammen über 550 Leinwände. Damit vertritt der Verband zwölf Prozent des Gesamtmarktes in Deutschland, der Mitte 2014 exakt 4605 Leinwände zählte. 2008 waren es noch 4824 Leinwände. Auch eine Konsequenz der Digitalisierung.

Das Kino von Jörg Wagner ist seit 1972 im Besitz seiner Familie. In der Anfangszeit gab es Tanzveranstaltungen vor der Leinwand und die Zuschauer durften während der Vorstellungen rauchen. 1996 übernahm Wagner im Alter von 26 Jahren das Geschäft von seinen Eltern. Bis auf eine Unterbrechung von drei Jahren, während derer er das Kino verpachtet hatte, ist der 45-Jährige seitdem Geschäftsführer, „und gefühlt immer hier“. Die neue Digital-Anlage in Neu Wulmstorf und die für ihre Installation nötigen Umbauten haben zusammen 100.000 Euro gekostet. Wagner hat sie auch über Fördergelder finanziert. „Zu Beginn der Digitalisierung kostete nur die Anlage etwa 50.000 Euro, inzwischen sind es 35.000 bis 45.000 Euro. „Ohne die Zuschüsse der Filmförderungsanstalt, der Bundesregierung sowie der Länder wäre die Umstellung für kleine Programmkinos gar nicht möglich gewesen“, sagt Verbands-Geschäftsführer Bruder.

In Wagners Kino laufen etwa 530 Vorstellungen pro Jahr


Mittlerweile steigt die Zahl der Kinos in einigen Städten sogar wieder. Zum Beispiel in Hamburg. Hier zählte man im vergangenen Jahr 28 Kinos, das waren zwei mehr als 2013. Dabei kostet der Eintritt im Vergleich zu den anderen Bundesländern in der Hansestadt mit durchschnittlich 8,75 Euro pro Karte am meisten. Deutschlandweit ist der Durchschnittspreis 2014 erstmals über die Acht-Euro-Marke gestiegen und liegt nun bei 8,01 Euro. Im Vorjahr war der Eintritt noch durchschnittlich neun Cent günstiger. Jörg Wagner versucht auch mit seinem Preis zu überzeugen. Er nimmt für eine 2D-Abendvorstellung sechs Euro Eintritt pro Person, am Kinodienstag ist es sogar ein Euro weniger. „Ich werde die Preise aber in nächster Zeit leider ein wenig anpassen müssen. Geplant sind 50 Cent mehr in der Abendvorstellung 2D“, sagt er.

Er und seine 24 Mitarbeiter, die er auf Minijob-Basis beschäftigt, sowie ein Teilzeit-Angestellter müssen sich etwas Besonderes einfallen lassen, damit die potenziellen Besucher nicht in einen der großen Kinopaläste in Hamburg gehen. So können die Zuschauer in Neu Wulmstorf während des Films einen Knopf an ihrem Sitz drücken und werden dann am Platz mit Getränken, Popcorn und Snacks versorgt. „Diesen Service haben meine Eltern schon 1981 eingeführt. Durch den damals gerade in Mode kommenden Videorekorder waren die Kinos bedroht ,und sie wollten etwas Besonderes anbieten“, sagt Wagner. Im selben Zuge verringerten Wagners Eltern die Anzahl der Sitzplätze von 400 auf 198 und versahen alle Reihen mit Tischen und kleinen Lampen. Die Wände sind mit beigen Stoffbahnen verkleidet. Links von der Leinwand stehen auf einem Balkon an der Wand Imitate von Waldorf und Statler, den aus der Muppet-Show bekannten, ewig sarkastisch kommentierenden, älteren Herren.

Die Einrichtung aus den 1980er-Jahren ist geblieben, aber die Technik ist hochmodern. „Die Digitalisierung war ein großer, aber notwendiger Schritt, da heute kaum noch Filme in 35 Millimeter geliefert werden“, sagt Wagner. „Dann und wann fehlt mir das Knattern des alten Projektors schon ein wenig. Aber die Vorteile überwiegen: Schließlich ist die Qualität des Bildes auch nach der 100. Aufführung noch einwandfrei.“ Zudem kann Wagner dank eines mitinstallierten Dolby-Systems inzwischen sogar 3D-Filme zeigen. Auch laut Kino-Verband hat sich die Digitalisierung für die übrig gebliebenen kleineren Kinos sehr positiv ausgewirkt.

„Die Programmflexibilität hat sich erhöht“, sagt Verbandschef Bruder. „Da die Filme jetzt einfach auf dem Server liegen und nicht mehr aufwendig zurückgespult und umgebaut werden muss, können einige Kinos teilweise sogar mehr Filme pro Tag zeigen.“ In Jörg Wagners Kino laufen etwa 530 Vorstellungen pro Jahr. Und seine Chancen, aktuelle Filme zu bekommen sind seit der Digitalisierung deutlich gestiegen. „Früher war die Anzahl der Kopien, die Verleiher herausgaben, sehr beschränkt. Als kleines Kino stand man da am Ende der Futterkette. So konnten wir Filme teils erst Wochen nach den großen Kinos zeigen. Das hat sich jetzt gebessert“, sagt Wagner. Er zahlt pro Film eine Mindestgarantie an den Verleiher, dazu kommen abhängig von Verleih und Aktualität des Films zwischen 38 und 50 Prozent der Einnahmen aus dem Kartenverkauf, mit denen die Mindestgarantie verrechnet wird.

Sinkende Besucherzahlen bei steigenden Umsätzen


Wagner zeigt auf seiner Leinwand vor allem Produktionen, die ein breites Publikum ansprechen. Ähnlich halten es die kleineren Kinobetreiber in der Umgebung, in Buxtehude und Buchholz. Seit 1999 gibt es das große Cinemaxx-Kino in der Harburger City, nur rund zehn Autominuten von Neu Wulmstorf entfernt. „Ich hatte dadurch einen stärkeren Besucherrückgang befürchtet. Das hat sich glücklicherweise so nicht bewahrheitet“, sagt Wagner, der sagt, seine Besucherzahlen insgesamt gesehen seien in den vergangenen Jahren stabil geblieben. „Bei beliebten Filmen kann durchaus jede Vorstellung ausverkauft sein.“ Der Altersdurchschnitt der Besucher sei allerdings gestiegen. Die Jugend zieht es offensichtlich in die Popcorn- und Softdrink-Tempel mit angeschlossener Leinwand. Die Älteren bevorzugen die Gemütlichkeit und den Service in Neu Wulmstorf.

Über konkrete Besucher- oder Umsatzzahlen möchte Wagner nicht sprechen. Schließlich liest die Konkurrenz mit. Die Branche insgesamt hat derweil mit einem Phänomen zu tun. Sinkende Besucherzahlen stehen steigenden Umsätzen gegenüber. Die steigenden Preise sind der Grund für das durchaus positive wirtschaftliche Ergebnis. Während im ersten Halbjahr 2010 noch 60,2 Millionen Zuschauer bundesweit eine Kinokarte lösten, waren es im vergleichbaren Zeitraum 2014 nur noch 56,3 Millionen. Der Umsatz ist im gleichen Zeitraum von 441,9 Millionen auf 450,6 Millionen Euro gestiegen. 2014 war dabei kein schlechtes Jahr. „Es gab viele gute europäische Produktionen. Beispielsweise den Film ,Monsieur Claude und seine Töchter’, den 3,7 Millionen Menschen angesehen haben und der besonders für kleine Kinos wichtig war“, sagt Felix Bruder. Zwar seien die Umsätze auch 2014 gestiegen, weiß der Verbandschef. Doch die kleineren Kinos dürften etwas weniger vom großen Umsatzkuchen abbekommen haben als die Multiplex-Konkurrenten. Der Grund: Die 3D-Produktionen in den Riesenkinos spülten besonders viel Geld in die Kassen.

Jörg Wagner bereitet gerade die nächsten Vorführungen am Computer vor, legt per Knopfdruck die Startzeiten fest. Am Abend werden die Filme dann automatisch gestartet. Auf dem heimischen Sofa sitzt Wagner deshalb aber während der Filmvorführung nicht. Obwohl ihm die moderne und teure Technik dies gestatten würde. „Einer muss ja am Tresen stehen“, sagt er. Manchmal stehen aber auch zwei am Tresen. Wagners drei Jahre alter Sohn entdeckt das Kino für sich, am liebsten mit der Taschenlampe im dunklen Saal.