Vor der Grünen Woche: Foodwatch-Chef Thilo Bode spricht im Abendblatt-Interview über ungesunde Produkte aus dem Supermarktregal, Tierquälerei und die Gefahren des Handelsabkommens TTIP.

Hamburg. Bei der Grünen Woche präsentieren sich die Hersteller als Garanten für Genuss, als Lieferanten für Lifestyle-Lebensmittel. Doch was steckt hinter den Produkten? Ein Gespräch mit Thilo Bode über Verbrauchertäuschung, krankmachende Fertigprodukte und die Gefahren des geplanten Freihandelsabkommens mit den USA. Der Foodwatch-Gründer war früher Greenpeace-Chef und ist im Kampf mit den Konzernen erprobt, mit seiner jetzigen Organisation prämiert er regelmäßig Werbelügen mit dem Goldenen Windbeutel.

Hamburger Abendblatt: Auf der Grünen Woche präsentieren die Lebensmittelhersteller wie jedes Jahr ihre Produktneuheiten. Schlagworte wie „Fitness“ oder „leicht“ sind in der zunehmend gesundheitsbewussten Gesellschaft derzeit besonders beliebt...

Thilo Bode: Hier ist aber mehr als Vorsicht geboten. Täuschung ist im Supermarkt eher die Regel als die Ausnahme. Wir haben vor ein paar Tagen deshalb ein „ultimatives Mogelprodukt“ vorgestellt, eine von Foodwatch selbst entwickelte Müsli-Verpackung, die zahlreiche nach wie vor legale Täuschungstricks der Industrie vereint.

Welche Tricks mahnen Sie an?

Bode: Unser Beispiel-Produkt heißt „Himbeer Fitness Flakes“. Es wirbt mit dem Begriff „aus der Region“, ein Werbespruch, der wie „unsere Heimat“ oder „unser Norden“ gesetzlich nicht geschützt ist und alles und nichts bedeuten kann. Es geht weiter mit dem Zutatenschwindel „Himbeer“: Sie können so viele leuchtend rote und frische Himbeeren auf die Verpackung drucken, wie Sie wollen. Solange Hersteller eine Alibi-Menge der ausgelobten Frucht hinzufügen, ist das völlig legal. Dazu kommt die Gesundheitslüge: Sobald in einem Produkt beispielsweise Vitamine oder Mineralstoffe enthalten sind, dürfen selbst Süßigkeiten, Softdrinks, Junkfood oder eben überzuckerte Frühstücksflocken mit Gesundheit werben. Begriffe wie „Fitness“ oder „Wellness“ sind ebenfalls nicht geschützt. Irreführend ist auch die Werbung mit den Angaben „ohne künstliches Aroma“, oder „ohne künstliche Farbstoffe“. Sie suggerieren Naturbelassenheit. Trotzdem darf in diesem Produkt zum Beispiel Aroma aus Schimmelpilzen oder Farbstoff aus Schildläusen enthalten sein.

Warum agieren die Konzerne auf diese Art und Weise?

Bode: Weil sie es dürfen. Alle diese Tricks sind legal – dadurch haben Hersteller, die ehrlich werben, einen Wettbewerbsnachteil. Die Unternehmen haben insbesondere mit hohen Zuckergehalten für eine Süßprägung schon von kleinen Kindern gesorgt. Zucker ist eine billige Zutat und ein Geschmacksverstärker. Aber die Zuckermengen in den Produkten sind oft unverantwortlich hoch. Hier agieren die Lebensmittelkonzerne ähnlich verantwortungslos wie die Tabakindustrie. Die hat auch jahrelang gesundheitliche Folgen abgestritten. Das macht auch die Lebens-mittelindustrie, obwohl ernährungsbedingte Krankheiten auf dem Vormarsch sind. Big Food ist das neue Big Tobacco.

Inzwischen ist den Verbrauchern aber doch bewusst, dass sie mit Cola oder Schokoriegeln ihrem Körper nicht gerade Gutes tun?

Bode: Die Industrie tut doch alles dafür, dass viele Süßigkeiten gar nicht als solche zu erkennen sind. Frühstücksflocken könnten durchaus ein ausgewogenes Frühstück sein – sie sind aber meistens völlig überzuckert. Eine ganze Reihe von Babyprodukten enthält unnötig Zucker, entgegen den ärztlichen Empfehlungen. Selbst der eigentlich harmlose Rotkohl aus der Dose ist inzwischen mit Maissirup gesüßt. Das ist völlig unnötig. Und es ist eine Irreführung der Kunden.

Inwiefern?

Bode: Dass sich hinter Begriffen wie Fructose oder Maissirup auch Zucker verbirgt, wissen viele Verbraucher doch gar nicht. Und dann kaufen sie auch noch Fitness-Flocken für ein vermeintlich ausgewogenes Frühstück, die genau so viel Zucker enthalten wie Kekse. Die Industrie schiebt die Verantwortung auf die Verbraucher und insbesondere auf die Eltern.

Warum auf die Eltern?

Bode: Es heißt dann immer, die Eltern sind für die Ernährung ihrer Kinder verantwortlich. Das stimmt zwar, ist aber nur eine Seite der Medaille: Mit großem Aufwand und Werbung sogar in den Schulen unternehmen die Hersteller alles, Kindern immer noch mehr Ungesundes aufzudrängen. Sie haben ein ökonomisches Interesse daran, dass Kinder süße, fettige Snacks und Softdrinks verzehren, weil die viel höhere Gewinnmargen bringen als Obst oder Gemüse. Das Ergebnis sehen wir im Supermarkt: Dreiviertel der angebotenen Kinderprodukte sind solches Junkfood. Ganz schlimm wird es, wenn auch noch völlig ungeeignete Produkte für Säuglinge als babygerecht vermarktet werden. So ging unser Preis für die Werbelüge des Jahres 2014 an Nestlé mit der Alete Trinkmahlzeit für Babys ab zehn Monaten. Die Negativ-Auszeichnung war mehr als verdient: Weil solche hochkalorischen Trinkmahlzeiten Überfütterung und Kariesbildung fördern, warnen Ärzte seit Langem vor dem Verzehr – Alete verkauft sie dennoch wie gesunde, babygerechte Kost.

Viele Verbraucher sorgen sich auch angesichts des geplanten Freihandelsabkommens mit den USA (TTIP). Sie befürchten eine Verschlechterung der Lebensmittelstandards, weil die USA als Ursprungsland ungesunder Ernährung mit Burgern und Bacon, und für Hormonfleisch oder Gentechnik verschrien sind.

Bode: Ob in der Landwirtschaft oder bei der Lebensmittelkennzeichnung – so gut, wie es immer heißt, sind die Standards in Europa ja leider gar nicht. Denken Sie an die Probleme in der Tierhaltung, an die Düngeprobleme beim Ackerbau oder an irreführende Produktaufmachungen. Wenn uns nun die Politiker versprechen, die „Standards“ zum Beispiel in der Landwirtschaft würden durch TTIP nicht gesenkt, ist das keine Erfolgsmeldung, sondern eine Bankrotterklärung. Die Angleichung technischer Standards steht auf einem ganz anderen Blatt.

Das ist ja zunächst als Abbau von Bürokratie ein löbliches Ziel.

Bode: Ja, aber es geht eben nicht nur um eine Angleichung rein technischer Standards wie Schraubenlängen und Blinkerfarben bei Autos. Schwierig wird es bei gesellschaftspolitischen Fragen, seien es Tierschutz oder Arbeitnehmerrechte. Das Problem: Ein TTIP-Abkommen wäre völkerrechtlich bindend. EU-Gesetze müssten dann im Einklang mit dem Abkommen sein, sonst droht ganz praktisch die Gefahr von Vertragsstrafen und Schiedsgerichtsklagen aus den USA. Das bedeutet, wir können zum Beispiel bessere Standards in der Tierhaltung, eine bessere Kennzeichnung von Agrargentechnik oder auch eine Ampelkennzeichnung für Nährwerte nur dann noch durchsetzen, wenn die USA zustimmen. Der Handlungsspielraum des Bundestages und des europäischen Gesetzgebers würden massiv eingeschränkt. Und das müssen wir verhindern. Warum sollten denn in Zukunft zum Beispiel unsere Standards für den Tierschutz von der Zustimmung eines Handelspartners abhängen? Das wäre doch absurd.

Immerhin will die Initiative „Tierwohl“ jetzt die Bedingungen in der Massenhaltung verbessern.

Bode: Die Initiative ist ein Armutszeugnis für die Branche. Spätestens seit der BSE-Krise wissen wir, dass in der Nutztierhaltung umgesteuert werden muss. Doch statt im fleischsatten Europa dafür zu sorgen, die Rechte der Tiere durchzusetzen, die wir ihnen inzwischen im Grundgesetz und im Lissabon-Vertrag der EU zugestehen, geht es vor allem um Exportchancen auf dem Weltmarkt. Schon der Begriff „Tierwohl“ ist nichts anderes als Kosmetik. Kein Mensch weiß, was das überhaupt ist. Wir können die wichtigsten arteigenen Verhaltensweisen der Nutztiere wissenschaftlich beschreiben und ihren Gesundheitszustand erfassen. Aber Wohlbefinden? Ich bitte Sie! Es ist die alte Masche der Ernährungswirtschaft: eine „freiwillige“ Maßnahme soll das Tätigwerden des Gesetzgebers verhindern, das eigene Image aufpolieren, aber die Geschäfte nicht stören. Dabei wissen alle: Nur konsequente Gesetzgebung und -durchsetzung kann den Tieren helfen. Und nur das können wir ethisch rechtfertigen!

Die Herkunft der Produkte spielt für viele Kunden schon länger eine große Rolle, unabhängig von der Diskussion um TTIP. Bedeutet „regional“ auch „gut“?

Bode: Ein schlechtes Produkt bleibt schlecht – auch wenn es aus der Region kommt. Übrigens ist es nicht so einfach: Je nach Produktionsbedingungen kann die Klimabilanz von Lammfleisch aus Neuseeland trotz der langen Transportwege besser sein. Der gegenwärtige Regionalitätsmythos ist ein Indiz für die Dysfunktion des Lebensmittelmarktes. Hätten wir verlässliche, objektive Qualitätskriterien und eine konsequent auf die Prävention von Qualitätsmängeln ausgerichtete Lebensmittelüberwachung, könnten die Verbraucher viel flexiblere Kaufentscheidungen treffen: Bevorzuge ich regionale Wertschöpfung, benötige ich verlässliche und umfassende Herkunftsinformationen. Doch so eine Vorschrift gibt es in der EU nicht. Solche einfachen Informationen über Lebensmittel, mit denen die Bürger mehr Objektivität für freie Kaufentscheidungen erhalten würden, scheitern am erbitterten Widerstand der längst global einkaufenden Lebensmittelindustrie. Hauptsache, man kann mit Gefühlen und guten Absichten extra Profite einstreichen.

Sie waren früher bei Greenpeace, haben dort ebenfalls den Kampf David gegen Goliath geführt, als Aktivist gegen mächtige Konzerne. Welche Arbeit hat Ihnen mehr Befriedigung gegeben?

Bode: Es geht in beiden Fällen darum, den Einfluss wirtschaftlicher Interessen zurückzudrängen zugunsten des Allgemeinwohls. Die Politik bevorzugt viel zu stark die Interessen der Unternehmen. Auch bei TTIP lässt sich ablesen, wie leichtfertig demokratische Errungenschaften und Rechte der Verbraucher verraten werden.

Welches war ein großes Erfolgserlebnis Ihrer Arbeit?

Bode: Bei Greenpeace wurden wir vor Jahrzehnten als Kämpfer für den Klimaschutz verlacht. Heute sehen die Menschen, wie wichtig dieses Anliegen ist. Das Bemühen um klimaschonendes Handeln ist inzwischen weltweit anerkannt. Ich bin mir sicher, dass Verbraucherrechte auf dem Lebensmittelmarkt eine ähnliche Konjunktur erleben werden. Essen ist ein politisches Thema geworden – das ist ein großer Fortschritt.