Immer mehr Hersteller von Cremes, Shampoos und Co. setzen auf rein pflanzliche Produkte. Der Markt wächst kräftig
Hamburg. Anietta Kindelmann nimmt einen kleinen Spatel in die Hand und mischt etwas Sheabutter in die Gesichtspflege. „Diese Butter sorgt für eine festere Konsistenz und kann das Lanolin ersetzen“, erklärt die Kosmetikerin. Lanolin ist als Wollwachs tierischen Ursprungs, und solche Inhaltsstoffe kommen bei Anietta Kindelmann nicht in die Cremedose. Die 40-Jährige hat in Eimsbütttel vor Kurzem ihr veganes Kosmetikstudio „Essential Organic Care“ eröffnet. In einer Sitzecke mit gemütlichen Kissen können die Kunden in Büchern wie „Kochen ohne Tiere“ blättern, durch die großen Scheiben fällt viel Tageslicht herein. „Ich ernähre mich seit einiger Zeit vegan“, sagt die Chefin und nippt an ihrem grünen Tee, „das hat mir sehr gut getan – und dann ist es ja nur ein kleiner Schritt zur veganen Kosmetik“. Bei „Essential Organic Care“ kommen zwar weder Honig noch Hyaluronsäure auf die Haut, aber ein Ort zum Missionieren ist das Studio nicht. „Ich muss mich selber manchmal noch fragen, ob ich ohne meine schöne Ledertasche leben will“, sagt Anietta Kindelmann lachend.
Überzeugungsarbeit ist in Sachen veganes Leben vielleicht auch nicht wirklich nötig. In Großstädten wie Hamburg und Berlin werben Bistros für vegane Brötchen, Kantinen setzen Kokosmilch statt Kochsahne ein und Supermärkte haben längst ganze Sortimente für Produkte ohne tierische Herkunft reserviert.
Denn Kosmetika mit Collagen oder Fruchtsäfte, die mit Gelatine geklärt wurden, sind für viele Menschen in den Metropolen heute genau so ein Tabu wie Schweinefleisch für Muslime. Rund 800.000 Veganer leben in Deutschland, Tendenz stark steigend. Zugleich wächst die Vielfalt an Lebensbereichen, in denen ein Verzicht auf Tierprodukte möglich wird, von Tag zu Tag.
Das tierische Hyaluron wird aus Hahnen-Kämmen hergestellt
In der Kosmetik vollzieht sich der Trend zu einem bewussteren Konsum schon länger. So setzen sich bei Masken oder Peelings Naturprodukte durch: In einem stagnierenden Gesamtmarkt legte der Umsatz mit Kosmetik aus natürlichen Substanzen – oft in Bio-Qualität – im vergangenen Jahr um 7,2 Prozent auf 920 Millionen Euro zu. Kosmetik, die vollständig oder zu einem großen Teil auf synthetisch hergestellte Inhaltsstoffe verzichtet, hat inzwischen einen Anteil von 15 Prozent am Gesamtmarkt erreicht. Deutschland ist damit nach den USA der zweitgrößte Markt für Naturkosmetik weltweit.
Zwar liegen für den veganen Bereich innerhalb der Naturkosmetikbranche derzeit noch kaum verlässliche Zahlen vor, aber der Markt wächst. Laut der Veganen Gesellschaft Deutschland wuchs der Umsatz an tierfreundlichen Cremes, Shampoos und Co. in den letzten beiden Jahren jeweils um 20 Prozent. „Im Naturkosmetik- Sortiment in unseren Drogerien erreichen die veganen Produkte einen Umsatzanteil von 82 Prozent“, sagt Wiebke Spannuth von Budnikowsky. „Auch bei unserer Eigenmarke ,Aliqua Naturkosmetik‘ achten wir darauf, die Produkte möglichst mit veganen Rezepturen umzusetzen“, ergänzt die Sprecherin der Drogeriekette. Die Verpackungen seien zudem mit dem Logo der Vegan Society gekennzeichnet. Lediglich zwei Produkte aus dem Sortiment erfüllten diese Bedingungen nicht.
Neben dem neu eröffneten Studio von Anietta Kindelmann bieten auch einige andere Kosmetikerinnen in der Hansestadt Pflege ohne tierische Erzeugnisse an. Und Hersteller wie die Berliner i+m oder Santaverde aus Hamburg spezialisieren sich auf die Nische der tierfreien Cremes. Santaverde ist mit seinen Produkten inzwischen europaweit in 600 Geschäften vertreten, in Hamburg beispielsweise im Alsterhaus und im veganen Supermarkt Veganz in Altona, der sein Kosmetiksortiment ebenfalls ausweitet.
Die tierischen Zutaten seien in der Regel ohne Probleme zu ersetzen, ist Anietta Kindelmann von „Essential Organic Care“ überzeugt. Die Wirkungen des Bindestoffs Lanolin seien nicht nur durch Sheabutter, sondern auch durch Nachtkerzen- oder Borretschöl zu erzielen. Da bei Veganern das Tierwohl im Vordergrund stehe, und es häufig bei den „Rohstoffproduzenten“ zu nicht artgerechten bis quälenden Verfahren der Gewinnung und Verarbeitung komme, seien eben auch Wollprodukte wie Lanolin zu ersetzen, klärt Sabine Beer vom Hamburger Label Santaverde auf. Hier gehe es beispielsweise um das rabiate Scheren von Schafen. Hinzu komme die Pestizidbelastung der Wolle.
Das Honigprodukt Propolis, das häufig in der Lippenpflege verwendet wird, ist offenbar ebenfalls verzichtbar: „Auch Salbei, Kamille oder Teebaumöl haben eine straffende und entzündungshemmende Wirkung“, sagt Anietta Kindelmann. Einige moderne Wirkstoffe gibt es als tierisches und veganes Produkt, zum Beispiel Hyaluronsäure: Das tierische Hyaluron wird aus Hahnen-Kämmen hergestellt. „Veganes Hyaluron wird biotechnologisch durch Fermentation aus pflanzlichen Materialen hergestellt“, sagt Sabine Beer.
Schwieriger wird es bei der dekorativen Kosmetik: So steht beispielsweise E 904 in der Zutatenliste für Schellack, das in Mascara oder Nagellack eingesetzt wird. Es handelt sich dabei um ein Harz von der Schildlaus. E 120 oder CL75470 sind Bezeichnungen für Karmin, einen roten Farbstoff für Lippenstift. Er stammt von Cochenille-Läusen.
Die komplexen Anforderungen der Veganer sind für die Massenproduktion entsprechend schwierig nachzubilden: So steht beim Pflegekonzern Beiersdorf vegane Kosmetik nach Angaben einer Sprecherin auch nicht im Fokus. Bei den ebenfalls für Veganer indiskutablen Tierversuchen bewegt sich der Nivea-Anbieter zwischen Überzeugung und gesetzlichen Vorschriften: In der EU sind für Kosmetikprodukte seit 2004 Tierversuche ohnehin vollständig verboten. Beiersdorf ist nach eigenen Angaben auch überzeugt, „dass Tierversuche an unseren Produkten für den Nachweis von deren Sicherheit und Wirksamkeit nicht erforderlich sind“.
Allerdings sind in China, wo europäische Marken ebenfalls in den Regalen stehen, Tierversuche in etlichen Produktkategorien gesetzlich vorgeschrieben. Die Tests werden in der Volksrepublik von lokalen Institutionen, die von den staatlichen Stellen autorisiert sind, durchgeführt. „Unser Ziel ist es hier“, sagt eine Beiersdorf-Sprecherin, „die Behörden zu überzeugen, dass Tierversuche für kosmetische Produkte unnötig sind.“
Das Duschgel pflegt mit Orangenöl, das Shampoo beinhaltet Rosmarin
Neben den Tierversuchen wirft ein verantwortungsvoller Gebrauch von Anti-Age-Lotionen oder Bodybutter allerdings noch weitaus mehr Fragen auf: So werden statt synthetischer Inhaltsstoffe oft Palmöle in den Rezepturen für Naturkosmetik eingesetzt. Aber was heißt es, wenn die Nachfrage nach Palmöl weltweit wächst und für die Plantagen immer mehr Regenwald abgeholzt wird? „Der aktuelle Hype um vegane Kosmetik bringt in jedem Fall Bewegung in den Markt, aber ob er sich halten wird, ist schwer zu sagen“, sagt Kaya-Line Knust von der Hamburger Naturkosmetikmarke Stop the water while using me! (STW). Es werde immer wieder Debatten über Inhaltsstoffe geben und das sei auch gut so.
Bei STW ist die gesamte Kosmetikserie vegan außer die Seife, da sie Honig enthält. Das Duschgel pflegt mit Orangenöl, das Shampoo soll mit Rosmarin die Durchblutung der Kopfhaut anregen. Bei „Stop the water while using me!“ trägt die Marke mit dem Ausspruch, das Wasser beim Gebrauch etwa des Shampoos oder Conditioners abzustellen, ihre Nachricht bereits im Namen und ruft damit ob unter der Dusche, beim Zähneputzen oder bei der Körperpflege – zum Wassersparen auf.
Die Marke hat von Hamburg aus einen erfolgreichen Expansionskurs genommen: Inzwischen sind die STW-Produkte in Australien, Taiwan, Kanada, USA, Russland, Indien und Singapur zu kaufen, auch in Hotels, die vom hohen Wasserverbrauch der Gäste betroffen sind. Der Lebensstil der Veganer, die sich für Nachhaltigkeit einsetzen, wird durch STW abgebildet. Auch für Anietta Kindelmann hört das vegane Leben nicht bei den Tiegeln und Töpfen rund um ihren Behandlungsstuhl auf. Zur Eröffnung ihres neuen Studios gab es Eiersalat aus Kichererbsen und Zwiebelmett mit zerbröselten Reiswaffeln. „Ich liebe Hausmannskost, und die funktioniert auch vegan“, sagt die Mutter von zwei Kindern.