Das Bundesverwaltungsgericht hat das Verfahren um die Elbvertiefung zum Europäischen Gerichtshof verwiesen. Scheitert das Projekt an der Wasserrahmenrichtlinie?
Leipzig/Hamburg. Da war sie wieder, diese leichte und doch sehr präsente westfälische Färbung in den Worten des Vorsitzenden Richters. Rüdiger Nolte, der den 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts leitet, stammt aus Bielefeld. Seine klare, überlegte Sprache klingt so, als müsse ein gütiger, aber strenger Vater beim Abendbrot den Kindern wieder einmal erklären, warum Hausaufgaben wichtig sind. So war es auch am vergangenen Donnerstag. Da standen Kläger und Beklagte im Konflikt um die Elbvertiefung einmal mehr vor ihren Richtern am höchsten deutschen Verwaltungsgericht.
Die Kläger, das sind die Umweltverbände BUND und Nabu, unterstützt vom WWF, die aus ökologischen Gründen die Vertiefung und Verbreiterung der Elbfahrrinne verhindern wollen. Beklagt sind die Planungsbehörden der Stadt Hamburg – die Hamburg Port Authority (HPA) – und die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes. Sie hatten in den vergangenen Jahren die mittlerweile mehr als 2600 Seiten umfassende Planfeststellung erarbeitet, um die Elbfahrrinne erweitern zu können. Doch Nolte, der Vorsitzende des fünfköpfigen Senats, teilte den Planern in einer etwa zehnminütigen Begründung sehr deutlich mit, dass sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben: „Die Erläuterungen der Planungsbehörden waren nicht ausreichend, um dieses Defizit auszugleichen“, sagte Nolte mit Blick auf das europäische Gewässerrecht. „Das ist mit dem Anspruch eines höchst vorsorglichen Maßstabs nicht vereinbar. Es muss die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs abgewartet werden, um die wasserrechtlichen Fragen zu klären.“ Auch eine Reihe von Einzelpunkten kritisierte er: „Die Planfeststellungsbeschlüsse leiden an verschiedenen Mängeln. Diese Mängel sind aber behebbar.“
Die Elbvertiefung scheint sich in immer neuen Wendungen zu verlieren
Was läuft schief bei der Elbvertiefung? Warum kommt ein Großprojekt nicht zur Entscheidung und Umsetzung, an dem zahlreiche Experten seit inzwischen mehr als zehn Jahren planen, nachbessern, interpretieren? Ein Vorhaben, für das politisch und juristisch gestritten und gekämpft wurde, dessen positiver Ausgang von der Hamburger Senatspolitik und der Hafenwirtschaft ein ums andere Mal vorhergesagt wurde und das doch immer wieder in neuen Wendungen und Endlosschleifen erscheint. „Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Aussetzung der Klageverfahren belegen erneut, dass derartig komplexe Vorhaben detailliert begründet werden müssen“, sagt der Rechtsanwalt Stefan Wiesendahl, Experte für Europäisches Umweltrecht bei der Kanzlei Kümmerlein in Essen zum Verfahren. „Grundlegende Bedenken gegen den Prüfansatz der zuständigen Behörden hat das Gericht aber offensichtlich nicht. Deshalb ist zu erwarten, dass die Zulassungen zur Erweiterung der Fahrrinne – selbst bei einer strengen Auslegung der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie durch den Europäischen Gerichtshof – nachgebessert werden können.“
Nachgebessert wurde das voluminöse Planungsrecht zur Vertiefung und Verbreiterung der Elbfahrrinne schon mehrfach. Noch während der öffentlichen, fünftägigen Anhörung im Juli vor dem Bundesverwaltungsgericht werkelten die Planungsbehörden nachts in Leipziger Hotelzimmern an einer Ergänzung der Unterlagen, um nicht das Scheitern des Projekts zu riskieren. Alle Beteiligten des Verfahrens stehen unter hohem Druck. Seit Jahren wachsen die Abmessungen der großen Containerschiffe ungestüm weiter. Nur mit großen ökonomischen Einschränkungen kommen die Frachter nach Hamburg. Wegen der Begrenzungen auf der Elbe in Tiefgang und Breite müssen sie auf Ladung verzichten. Auch die Bundesverwaltungsrichter erkennen den wirtschaftlichen und nautischen Bedarf für eine Erweiterung der Elbfahrrinne an. Dennoch verweigerten sie dem Projekt auch am Donnerstag die Freigabe – weil sie nicht wissen, ob sie das Recht haben, die Elbvertiefung zu genehmigen.
Rein juristisch gesehen, ist der Kampf um die Elbvertiefung eine Operation am offenen Herzen. Im Jahr 2000 verabschiedete das Europäische Parlament eine Europäische Wasserrahmenrichtlinie. Dieses grundlegende europäische Wasserrecht dient einem hehren Ziel: Wasser, Grundlage allen Lebens, ist ein besonders schützenswertes Gut. Die mehr als 500 Millionen Bürger der Europäischen Union sollen die Gewissheit haben, dass die Qualität des Wassers und der Gewässer in der EU stetig verbessert wird. Baumaßnahmen wie jene zum Ausbau der Elbe dürfen die Qualität des Gewässers deshalb nicht verschlechtern – etwa durch einen anschließend höheren Gehalt an Meersalz und Schwebstoffen. Wasser ist aber zugleich auch die Grundlage für jede Form von Seehandel. Wenn die Elbe für immer mehr immer größere Schiffe nicht mehr passierbar ist, kann Hamburg am Wettbewerb im weltumspannenden Güterverkehr nicht mehr teilnehmen wie bislang. Gerade die China-Verkehre würde das empfindlich treffen: Hamburg ist Europas wichtigster Hafen für den Außenhandel zwischen der Europäischen Union und China.
Wohl die wenigsten Verantwortlichen haben beizeiten bedacht, welche einschneidenden Konsequenzen der Konflikt zwischen Umweltschutz und Wirtschaftswachstum mit Blick auf das europäische Wasserrecht hat. Das ist äußerst erstaunlich: Im Jahr 2010 erbat der Hamburger Senat eine Stellungnahme der EU-Kommission mit der Frage, ob die Elbvertiefung europäisches Gewässerrecht verletze. Nach einem Jahr Prüfung bekam Hamburg Ende 2011 die Antwort. Es gebe keine rechtlichen Bedenken gegen das Vorhaben, die Verbreiterung und Vertiefung der Elbe sei unverzichtbar. Die Hafenwirtschaft und der Hamburger Senat feierten die Expertise als „Meilenstein“ für das Großprojekt – doch deren Wert, das wurde am Donnerstag offenbar, war gleich null. Einmal mehr geht das Projekt Elbvertiefung nun nach Europa, diesmal zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) nach Luxemburg. Dessen Richter müssen die Wasserrichtlinie präzisieren. Das Bundesverwaltungsgericht hatte den EuGH darum im Jahr 2013 ersucht. Denn auch die Planungsverfahren zur Erweiterung von Weser und Außenweser werfen Fragen auf. Der 7. Senat, der neben der Elbvertiefung auch für die Klagen der Umweltverbände im Weserverfahren zuständig ist, schickte den Hamburger Fall nun dem Bremer hinterher. Das hatte man in Hamburg nach der ausführlichen Anhörung im Juli kaum für möglich gehalten.
Wenn die Elbvertiefung nicht an europäischem Recht scheitern soll, müsste der EuGH – salopp gesagt – entscheiden, dass man die Wasserrichtlinie ja nicht allzu eng auslegen muss. Das würde die grundlegenden Ziele des europäischen Gewässerrechts ad absurdum führen. Die Planungsbehörden für die Erweiterung der Elbfahrrinne wissen: Sie können eine Verschlechterung der Wasserqualität an der Elbe nicht ausschließen. Sie müssen damit rechnen, dass der Eintrag von Schwebstoffen und Meersalz an der Unterelbe durch einen höheren Tidendruck zunimmt. Eine Vertiefung des Flusses wirkt wie ein Kanal. Die mit jeder Flut eingespülte Wassermenge steigt, damit auch der Eintrag von Sand, Schlick und anderen Sedimentstoffen. Die Hamburger Planer haben deshalb bereits im Herbst 2013 vorsorglich eine Ausnahmeregelung für das Planfeststellungsverfahren beantragt. Doch dafür sieht das Bundesverwaltungsgericht bislang keine ausreichende Grundlage. „Es bleibt uns allen nur, auf den EuGH zu warten, das müssen wir aber nicht hier in diesem Raum tun“, sagte der Vorsitzende Richter Nolte am Donnerstag zur Verabschiedung der Prozessbeteiligten und des Publikums am Gericht.
Die klagenden Umweltschützer zeigen sich zufrieden
Im Hamburger Rathaus trat kurz darauf ein zerknirschter Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) vor die Presse: „Wir hätten uns eine andere Entscheidung erhofft“, sagte er und gab der Diskussion um die Elbvertiefung dann eine neue Einordnung: Bei der Auslegung der europäischen Wasserrahmenrichtlinie gehe es um eine „schicksalhafte“ Frage für viele Städte in Europa. Diese Städte hätten sich wie Hamburg an Flüssen angesiedelt, hier seien Kulturlandschaften entstanden und Industrie aufgebaut worden. „Und die Frage ist, ob die Städte diesen Lebensraum weiter nutzen können“, sagte Scholz.
Das war, in bislang einmaliger Klarheit, ein Hinweis auf die realen Verhältnisse: Wer das europäische Wasserrecht nach Buchstabe und Komma auslegt, droht, ganze Metropolregionen wirtschaftlich lahmzulegen, die an Europas Flüssen liegen. Das ist ein weitreichender Hinweis. Aber er kommt wohl zu spät. Denn der Gesetzgeber in Europa hat dem Schutz der Gewässer höchste Priorität eingeräumt. Und der Gesetzgeber in Deutschland hat die Umweltverbände in den 2000er-Jahren durch das Verbandsklagerecht in die Lage versetzt, ihre Rolle als Anwalt der Umwelt bis in die höchsten Gerichte hinein auszuspielen. Das tun sie nun. „Auf der Skala von ganz enttäuscht bis sehr begeistert bin ich zu 80 bis 85 Prozent begeistert“, sagte Rüdiger Nebelsieck nach der Ankündigung des Gerichts am Donnerstag, der federführende Anwalt der klagenden Umweltverbände. Im vergangenen Jahr hatte er dazu beigetragen, dass das Bundesverwaltungsgericht im Verfahren zur Weservertiefung den EuGH anrief. Nun schickten die Leipziger Richter auch die Elbvertiefung auf den langen Weg nach Europa.