In Hamburg gibt es 700 Heilpraktiker, in ganz Deutschland sind es sogar 35.000. Gefühlt ist Hamburg eine Hochburg für Heilpraktiker. Schulmediziner stehen der Konkurrenz kritisch gegenüber. Doch Homöopathie findet immer mehr Anhänger.
Hamburg. Sie ist schon lange im Geschäft. Seit 15 Jahren arbeitet Sonja Müller in Hamburg als Heilpraktikerin. Gelernt hat sie den Beruf der pharmazeutisch-technischen Assistentin. „Ich habe in diversen Apotheken gearbeitet und mich dort bereits intensiv mit der Heilkraft von Kräutern beschäftigt“, sagt die in Bergedorf aufgewachsene Frau. Schon bei ihrem Großvater, der als Heilpraktiker tätig war, hat sie die Welt der Heilmittel fasziniert. Ihr Vater war Arzt. Da war für Müller bald klar, dass auch sie eines Tages in die Gesundheitsbranche wechseln würde. Nachdem sie genug Geld angespart hatte, ging sie auf eine Heilpraktikerschule in Hamburg. „30.000 Mark hat meine Ausbildung gekostet“, sagt Müller. „Jeden Werktag war Unterricht, nebenbei musste ich noch in Apotheken jobben.“
Für die Heilpraktikerin hat sich der Aufwand gelohnt, sie hat das Geschäft von der Pike auf gelernt. Heute betreibt sie ihre Naturheilpraxis in Winterhude an der Grenze zur Uhlenhorst. Freitags behandelt sie nachmittags zudem Patienten in Bergedorf. „Ich habe auch weitere Fortbildungen gemacht, etwa als Schmerztherapeutin, in Homöopathie, Akupunktur oder auch der Irisdiagnose“, erzählt sie.
Gefühlt ist Hamburg die Hochburg für Heilpraktiker. Mehr als 700 gibt es allein im Hamburger Landesverband. Hinzu kommen weitere aus anderen Organisationen. Rund 18 verschiedene Heilpraktikerschulen bieten Kurse und Seminare an. Eine Vielzahl davon auch eine Ausbildung am Wochenende und abends. Doch bevor man sich für eine Schule entscheidet, sollte man die Kosten und die Lehrgänge genau prüfen. Denn es gibt keine staatlich geregelte Ausbildung. Sonja Müller hat drei Jahre lang die Schulbank gedrückt, danach sammelte sie Erfahrungen in Heilpraktikerpraxen, ehe sie sich selbstständig machte. Heute behandelt sie rund sechs Patienten am Tag. Für das Erstgespräch, das vergleichsweise lange dauert, verlangt sie zwischen 70 und 80 Euro pro Stunde. Später wird es preiswerter. Als Erstes untersucht sie die Augen. Die Iris offenbart viel über den Gesundheitszustand eines Menschen.
„Im Auge bilden sich Organe wie der Darm, Nieren oder auch das Herz im Uhrzeigersinn ab. Und wenn zum Beispiel ein Organ wie das Herz abgedunkelt erscheint, erkenne ich eine Organschwäche. Ist der Magen aufgehellt, handelt es sich um eine Entzündung wie etwa Gastritis“, sagt sie. In diesem Fall versucht sie mit natürlichen Mitteln die Darmflora wieder auf Trab zu bringen. Bei Halsschmerzen rät sie zu Globuli, das sind kleine Naturheilmittelkügelchen, die den Gesundheitszustand verbessern sollen.
Oft kommen Allergiker, Menschen mit Neurodermitis oder Asthmatiker zu ihr. „Auch bei seelischen Erkrankungen, Schlafproblemen oder Schmerz kann ich helfen“, sagt Müller, die dann bestimmte Globuli oder auch sogenannte Transfer Factoren einsetzt. Dabei handelt es sich um natürliche Substanzen, die das Immunsystem so weit trainieren und schulen sollen, dass es wieder korrekt arbeitet. Zudem verwendet sie Essenzen von heilenden Blumen, Salben, Tees und andere Wässerchen, die heilen sollen. „Zu mir kommen auch Patienten mit Burn-out-Syndrom. Die behandele ich unter anderem mit Aconitum.“ Die Essenzen aus der eigentlich giftigen Pflanze sollen helfen, das Immunsystem zu stärken. Mit ihrem so genannten Vegatestgerät findet sie heraus, ob Menschen an Allergien leiden oder andere Unverträglichkeiten haben. Ihr größter Erfolg war nach eigener Darstellung die Heilung einer Frau, die mehrfach im Jahr eine Lungenentzündung bekam. „Ich habe sie drei Monate lang behandelt.“
In Deutschland gibt es rund 35.000 Heilpraktiker, sagt Ursula Hilpert-Mühlig vom Dachverband der Deutschen Heilpraktikerverbände (DDH). Doch auch diese Zahl ist nicht verbürgt, da es sich um Schätzungen handelt. Der Umsatz der 13.000 bis 15.000 Praxen lag 2010 bei 178 Millionen Euro, so das Hamburger Statistikportal Statista. Diese Zahl entspricht gut 50.000 Euro Umsatz pro Praxis. Doch Durchschnittszahlen werden der Branche nicht gerecht. Es gibt Praxen, deren Erlöse auf Arztniveau liegen und kleine Betriebe, die um jeden Kunden kämpfen müssen. Mindestens elf Verbände ringen um Mitglieder – angefangen vom Allgemeinen Deutschen Heilpraktikerverband bis hin zu der Vereinigung Christlicher Heilpraktiker.
Das Geschäft der alternativen Heilmethoden gilt vor allem bei vielen Schulmedizinern als umstritten – obwohl immer mehr Ärzte sich dieser alternativen Methode zuwenden. Eines der Grundprinzipien der Homöopathie ist die Verdünnung: Die Inhaltsstoffe eines Heilmittels werden zum Teil so stark verdünnt, dass sich rein rechnerisch kein einziges Wirkstoffmolekül mehr im fertigen Präparat befindet. „Die homöopathischen Globuli wirken nicht besser als ein Scheinmedikament“, sagt deshalb der Schulmediziner Edzard Ernst. Doch das will die zunehmende Zahl der Heilpraktikerfans nicht glauben. Denn zu viele Menschen haben mittlerweile die Erfahrung gemacht, dass etwa Arnika-Globuli bei Schmerzen helfen oder Schüßler-Salze gesundheitsfördernd wirken. Kassenrezepte dürfen Heilpraktiker nicht ausstellen. Dennoch müssen sie eine Zulassungsprüfung absolvieren und unterliegen selbstverständlich wie alle Ärzte der Sorgfaltspflicht. Zudem fallen Heilpraktiker unter die umfangreichen Regeln des Patientenrechtegesetzes.
Patienten können eine Zusatzversicherung abschließen, die einen Teil der Kosten beim Heilpraktiker ersetzt. „Im Gegensatz zu den Ärzten stellen wir den gesamten Menschen in den Mittelpunkt, sein Umfeld, seine Arbeitsstelle, ob er wertgeschätzt wird, seine Stärken, Schwächen und Selbstheilungskräfte“, sagt Ursula Hilpert-Mühlig. „Naturheilkundliche Verfahren werden an den individuellen Schwächen und Stärken des Patienten ausgerichtet, sie dienen als Reiztherapie zur Anregung der Selbstheilungskräfte.“ Nach Berechnungen des Allensbach-Instituts hat mehr als die Hälfte der Deutschen schon einmal ein homöopatisches Mittel geschluckt. Die Hersteller profitieren von dem Trend, obwohl die einzelnen Globuli oder Salze nicht teuer sind. Allein im Jahr 2012 wurden in Deutschland Homöopathika für knapp 500 Millionen Euro umgesetzt. Das entspricht acht Prozent aller rezeptfreien Arzneimittel. Davon wurden 24 Prozent von einem Arzt oder Heilpraktiker verordnet, 76 Prozent wurden an den Heilpraktikern vorbei direkt vom Anwender in der Apotheke gekauft. Und der Trend zeigt bei Umsatz und Nachfrage eindeutig nach oben. Eine gute Nachricht für Sonja Müller und ihre Kollegen.