Viele der 9000 Pflegekräfte in Hamburger Seniorenheimen können von ihrem Lohn kaum leben. 300 Stellen sind unbesetzt. Der Nachwuchs fehlt.
Hamburg. Morgens um sieben ist die Welt für Katrin Meyer alles andere als in Ordnung. Sie ist eine der rund 9000 Pflegekräfte in den Hamburger Altenheimen. Gerade hatte sie mit dem Nachtdienst die Besprechung zur Übergabe. Es geht um die Aufgaben, die an diesem Tag auf sie zukommen werden. Herr Petersen in Zimmer fünf ist beim Aufstehen ausgerutscht, das Knie sieht schlimm aus, gleich müsste der Arzt eintreffen. Bei Frau Kruse nebenan meldet sich mal wieder die Migräne, die Medikamente müssen nachbestellt werden. Frau Adam hat einen ihrer besonders schlechten Tage: „Ich werde heute sterben“, hat sie dem Pfleger beim Anziehen gesagt. Dann schrillte plötzlich die Klingel aus der Nummer 7, und es blieb keine Zeit mehr, die 80-Jährige zu beruhigen oder sogar etwas aufzumuntern. Vielleicht führt der erste Weg von Katrin Meyer heute zu ihr. Vielleicht, wenn nicht wieder jemand klingelt.
Katrin Meyer ist eine Pflegerin aus einem Hamburger Altenheim – und ihr Name ist geändert, weil viele der Mitarbeiter in der Pflege Angst vor Repressalien haben, wenn sie mit den Medien über ihre Arbeit und Sorgen sprechen. Dabei ist etwas Transparenz in der Branche, die Millionen Menschen höchstens von Besuchen der Familie in den Heimen kennen, dringend angezeigt: Die Bezahlung in den Heimen ist oft so schlecht, die minutengetakteten Aufgaben so schwer, dass kaum jemand mehr dort arbeiten will. Gleichzeitig werden die Deutschen immer älter, der Bedarf an Menschen, die sich um hilfebedürftige Senioren kümmern, wächst. Die Gesellschaft befindet sich im Pflegedilemma.
Das weiß kaum jemand so genau wie Rolf in der Stroth und Nelson Studzinski. Beide haben über Jahre als Pfleger gearbeitet und engagieren sich heute als Betriebsratschefs in Hamburger Heimen. In der Stroth kümmert sich bei Pflegen & Wohnen Hamburg um insgesamt 1700 Mitarbeiter, Studzinski vertritt das Haus am Frankenberg in Harburg. Beide erleben täglich, wie schwierig die Lage in den Heimen heute ist: zu wenig Nachwuchs, oft zu wenig Personal wegen vieler Krankheitsfälle durch Stress am Arbeitsplatz, schlechte Löhne. „Dabei ist Pflegen & Wohnen noch ein positives Beispiel in der Branche“, sagt Norbert Proske von Ver.di über den größten privaten Anbieter von stationärer Pflege in der Hansestadt.
Denn an den 13 Standorten von Pflegen & Wohnen geht es vergleichsweise human für die Mitarbeiter zu: Ihr Tarifvertrag garantiert erfahrenen, examinierten Pflegekräften einen Monatslohn von gut 3000 Euro brutto. In Dutzenden anderen Heimen in der Hansestadt ist der Organisationsgrad und das Selbstbewusstsein der Beschäftigten dagegen so gering, dass Pflegehelfer hier mit 1800 Euro im Monat abgespeist werden. Wenig Geld für die Dauerbelastung, wie ein Blick auf Katrin Meyer zeigt: „Die Mitarbeiter finden oft gar nicht mehr in den Schlaf, weil sie ihr Arbeitspensum an einem Tag nicht bewältigen können und ewig ihre Aufgaben vor sich herwälzen“, beklagt in der Stroth, der als Mitglied der Fachkommission Pflege von Ver.di einen tiefen Einblick in die Pflegelandschaft der Stadt hat. Die Bürokratie schreibe inzwischen derartig ausführliche Tagesprotokolle vor, dass kaum Zeit für die Menschen bliebe. „Es herrscht eine Misstrauenskultur“, beklagt in der Stroth. Die Altenpflege sei heute ähnlich reglementiert wie Atomkraftwerke.
Bei der Agentur für Arbeit in Hamburg sind derzeit rund 300 offene Stellen bei Heimen gemeldet, die auf der Suche nach Pflegern sind. „Doch der Markt ist leer gefegt“, sagt Knut Böhrnsen, Sprecher der Agentur für Arbeit. Der Beruf sei für viele einfach nicht die erste Wahl. Allein die Schwierigkeit, wechselnde Schichten mit der Zeit für die eigene Familie zu vereinbaren, schrecke die Bewerber ab.
Die Heime versuchen derweil alle möglichen Optionen auszuschöpfen, ihre Lücken zu füllen. Sie schalten Anzeigen, unterhalten eigene Zeitarbeitsfirmen, veranstalten Jobbörsen, werben Leute bei anderen Heimen ab. Die Agentur für Arbeit bietet aber auch ein Förderprogramm für Helfer an, sich zum examinierten Pfleger ausbilden zu lassen, betont Böhrnsen.
Während auf dem Arbeitsmarkt in Sachen Pflege der Notstand herrscht, wächst der Bedarf an Unterstützung für ältere Menschen: Derzeit leben in Deutschland 2,3 Millionen Pflegebedürftige, 700.000 von ihnen wohnen in Heimen. Bis 2030 sollen wegen der steigenden Lebenserwartung gut drei Millionen Menschen pflegebedürftig sein.
Wegen der niedrigen Bezahlung und des Dauerstresses, dem viele Pfleger ausgesetzt sind, fehlt nicht nur der Nachwuchs, beklagt Studzinski vom Haus am Frankenberg in Harburg, eine Einrichtung der Wohnungsbaugenossenschaft Süderelbe eG. „Die Hälfte der Pfleger will den Job wechseln“, sagt er. Die Fluktuation sei entsprechend hoch. Die Mitarbeiter litten auch darunter, dass der Beruf in der Gesellschaft ein geringes Ansehen habe. „Wenn ein Auszubildender die Chance hat, in ein Krankenhaus anstatt zu uns zu kommen, ist er sofort weg“, sagt in der Stroth. Auch der immer wieder geäußerten Forderung aus der Politik, mehr Langzeitarbeitslose in dem Bereich einzusetzen, stehen die Fachleute kritisch gegenüber: „Die Grundeinstellung muss da sein, ich muss Empathie aufbringen, muss mit Menschen umgehen können“, sagt in der Stroth.
Die Programme für Arbeitslose sind nur ein Lösungsansatz für das deutsche Pflegedilemma. Zugleich wird immer wieder der Ruf laut nach Arbeitskräften aus dem Ausland. Aber auch der erhoffte Zustrom aus dem EU-Ausland kann die Probleme nicht unbedingt lösen. Zwar kommen mehr Osteuropäer – die Zahl der Pfleger aus Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn ist seit 2011 bundesweit von 15.000 auf rund 21.000 gestiegen – aber aus dem übrigen Europa verläuft die Anwerbung schleppend: 2013 durchliefen weniger als 200 Pflegefachkräfte ein Anerkennungsverfahren in Deutschland.
Die Suche endet aber nicht an den Grenzen Europas: Ein vom Arbeitgeberverband Pflege initiiertes Pilotprojekt holt in diesem Jahr 150 chinesische Pflegefachkräfte nach Deutschland. Die ersten fünf Chinesinnen haben gerade ihre Arbeit in einem Frankfurter Seniorenzentrum aufgenommen. „Wir versuchen damit aber unsere Probleme auf dem Rücken anderer Ländern zu lösen“, sagt in der Stroth. Schließlich steht die Volksrepublik mit ihrer Ein-Kind-Politik selber vor der Herausforderung einer überalterten Gesellschaft: Wer heute in China geboren wird, muss sich schon jetzt auf die Warteliste für ein Seniorenheim setzen, so groß ist der zukünftige Bedarf im Reich der Mitte.