Die Industrie reagiert darauf mit Verunsicherung. Bis zum Jahr 2020 sollen vor den deutschen Küsten, vor allem auf der Nordsee, rund 6500 Megawatt Leistung installiert werden.
Deutsche Bucht. Beim Abheben von der Startbahn in Hamburg-Fuhlsbüttel schüttelt es die zehnsitzige Britten-Norman Islander ein wenig, dann steigt das zweimotorige Propellerflugzeug über die Wolken. Die lösen sich beim Flug über die Küste hinaus allmählich auf. Nach einer Stunde kommt links querab Helgoland in Sicht und scharf rechts unterhalb des Flugzeugs eine gelbe Insel aus Stahl. Es ist die Plattform „HelWin 1“. Im August hat Siemens die Anlage installiert – das erste Umspannwerk für die Anbindung von Offshore-Windparks an das Landnetz per Gleichstrom-Übertragung, das der Elektronikkonzern je gebaut hat. Um HelWin 1 herum herrscht reger Schiffsverkehr. Die „Victoria Mathias“, das Errichterschiff des Energiekonzerns RWE, kommt aus Bremerhaven mit neuen Fundamenten für Offshore-Windturbinen heran, die im Windpark Nordsee Ost installiert werden sollen. Im benachbarten Offshore-Park Meerwind des Unternehmens Wind MW stehen bereits die meisten Turbinen auf ihren Verankerungen. Beide Windparks sollen über HelWin 1 bei Brunsbüttel an das Landnetz angeschlossen werden.
Siemens und alle anderen Beteiligten leisten in der Deutschen Bucht, gut 30 Kilometer nördlich von Helgoland Pionierarbeit. Sie bauen eine komplett neue Infrastruktur für die Stromversorgung auf. In Dänemark und in Großbritannien gibt es bereits weit mehr Offshore-Windparks als in Deutschland. Aber nur in der deutschen Nordsee wird die so genannte HGÜ-Technologie angewendet, die Umwandlung des Stroms von Wechselstrom in Gleichstrom, um beim Transport an Land möglichst wenig Leistung zu verlieren. Die deutschen Nordsee-Offshore-Parks liegen weiter draußen auf See als die britischen und dänischen. Neben Siemens bauen nur Alstom und ABB solche Plattformen für den Einsatz auf See.
„Wir haben bislang vier HGÜ-Plattformen in Arbeit, mit vier verschiedenen Leistungen und drei verschiedenen Spannungsebenen“, sagt Marc Becker, der bei Siemens zuständige Manager der Projekte mit Sitz in Hamburg. 350 Mitarbeiter hat sein Team in der Hansestadt. Die Experten sind zuständig für die Bauüberwachung der Plattformen auf der Doppelwerft Nordic Yards in Wismar und in Rostock, für die Installation der Umspannwerke auf See und für die Inbetriebnahme der komplexen Anlagen. „SylWin 1“, die Siemens für den Einsatz vor Sylt derzeit bauen lässt, ist mit 864 Megawatt Leistung das bislang stärkste Offshore-Umspannwerk der Welt. HelWin 1 wird 576 Megawatt Leistung bündeln können, damit ließe sich bei konstantem Wind der Strombedarf von 500.000 Haushalten decken. „Die Projekte dieser frühen Phase sind alle Einzelstücke. In der nächsten Generation solcher Plattformen werden wir mehr Standardisierungen brauchen“, sagt Becker im Dröhnen der Propeller.
Wie schnell und wie weit Siemens und seine Konkurrenten allerdings die nächste Generation realisieren werden, ist dieser Tage ungewiss. Die künftige Bundesregierung, mutmaßlich eine große Koalition von Union und SPD, will die Ausbauziele für die Offshore-Windkraft bis zum Jahr 2030 deutlich reduzieren. Das hat die Arbeitsgruppe Energie bei den Koalitionsverhandlungen beschlossen. Bis zum Jahr 2020 sollen vor den deutschen Küsten, vor allem auf der Nordsee, rund 6500 Megawatt Leistung installiert werden. Bislang waren 10.000 Megawatt das Ziel. Völlig offen ist, unter welchen Förderbedingungen, etwa bei der Vergütung des Stroms, die Offshore-Windkraft in Deutschland künftig ausgebaut wird. Details sollen voraussichtlich bis Ostern mit der Neufassung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) geregelt werden.
An der Nordseeküste haben sich in den vergangenen Jahren etliche Industrie- und Dienstleistungsfirmen für den Aufbau einer deutschen Offshore-Wirtschaft angesiedelt. Hamburg profitiert vor allem von Unternehmenszentralen und Projektbüros. So steuert Siemens sein weltweites Geschäft mit Windturbinen – vor allem Offshore-Anlagen – mittlerweile von Hamburg aus. Auch die Experten für die Landanbindungen sitzen überwiegend in der Hansestadt. Die Perspektiven aber sind unsicher: „Wir werden uns für die beiden Projekte BorWin 3 und BorWin 4 bewerben, die Tennet wohl 2014 ausschreibt. Alles weitere hängt dann von der Novelle des EEG ab“, sagt Manager Becker.
Auch der Netzbetreiber Tennet, ein Tochterunternehmen des gleichnamigen niederländischen Staatskonzerns, drängt auf einen entschleunigten Ausbau der deutschen Offshore-Parks. Tennet ist verantwortlich für die Landanschlüsse der Parks auf der deutschen Nordsee. In den vergangenen Jahren zeigte sich das Unternehmen von der Aufgabe mitunter wirtschaftlich und technologisch überfordert. „Wir haben Aufträge für elf Anschlussleitungen in der Nordsee mit einer Gesamtleistung von 6,2 Gigawatt verbindlich vergeben“, sagte Tennet-Geschätsführer Lex Hartmann. „Aber wir bauen auf Vorrat, weil gleichzeitig nur verbindliche Investitionsentscheidungen mit einer Gesamtkapazität von 2,9 Gigawatt vorliegen.“