45.461 Kilometer stecken in einem ganz normalen Einkaufswagen, zählt man die Entfernungen zusammen, die Lebensmittel von ihrem Produktionsort bis nach Hamburg zurücklegen.
Einmal um die ganze Welt. Was an einen Schlagertitel von Karel Gott erinnert, war das große Vorhaben eines Teams vom Hamburger Abendblatt in den vergangenen fünf Monaten. Ausgangspunkt war die Frage, wie viele Kilometer in einem ganz gewöhnlichen Einkaufskorb „enthalten“ sind. Schließlich ist es in unserer globalisierten Welt selbstverständlich, Eier aus Schleswig-Holstein, Kaffee aus Peru, Käse aus der Schweiz und Orangen aus Spanien einkaufen zu können.
Kaum jemand macht sich aber Gedanken über den Transport der Produkte, bevor sie bei uns im Einkaufskorb landen. Also gingen wir Mitte März an einem Freitagnachmittag in einen Supermarkt in Hamburg-Eimsbüttel und kauften das ein, was eine Familie an einem Wochenende so verbraucht. Dabei lag unser Augenmerk auf Ausgewogenheit: Produkte aus der Region gehörten genauso dazu wie Lebensmittel aus der Ferne. Grundnahrungsmittel wie Milch, Butter und Käse waren darunter genauso wie Nutella, eine Flasche Wein, Kaffee und Bananen.
Insgesamt 38 Produkte kamen so zusammen, an deren „Ursprungsorte“ wir in den darauf folgenden Monaten reisten und über deren Herstellung wir Reportagen schrieben. Am Ende sind sind 45.461 Kilometer herausgekommen, rechnet man den Transportweg eines jedes Lebensmittels vom Produktionsort bis nach Hamburg zusammen.
Die längste Reise führte uns zu den Bananenplantagen ins peruanische Sullana. 10.501 Kilometer legten wir aus Hamburg zurück. Die spektakulärste Exkursion hatte das 8073 Kilometer entfernte Dutch Harbor im US-Bundesstaat Alaska zum Ziel. Der kürzeste Weg, vier Kilometer lang, führte uns an den Ort in Hamburg, wo Astra-Bier gebraut wird.
Aber fangen wir an jenem Freitag im Eimsbütteler Supermarkt an. Dort stießen wir auf ein erstes Problem. Zwar müssen dem deutschen Lebensmittelgesetz zufolge die einzelnen Bestandteile eines Produktes auf der Verpackung aufgelistet werden. Der Herkunftsort aber spielt offenbar keine so bedeutende Rolle. Vor allem bei verarbeiteten Produkten hieß es, nachfragen, wo sie produziert werden.
Am leichtesten hatten wir es beim Rindfleisch. Dessen Herkunft erfuhren wir mit Hilfe eines kleinen Bretts, das im Supermarkt direkt neben der Fleischtheke hing. Auf einem angepinnten Zettel stand, wann das Rindfleisch abgepackt wurde und wer es kontrolliert hatte. Dazu gab es eine Chargen- und eine Schlüsselnummer. Selbst die Zahl, die auf der Ohrmarke des Rindes gestanden hat, erfuhren wir. Und, das Wichtigste, den Herkunftsbetrieb in Oberbayern: „Georg Stübl, Liedering 1, 83119 Frabertsham“.
So viel Transparenz herrscht nicht immer. Wenn bei Eiern der Herkunftsort keine Marketingrolle spielt - unsere stammten von der Nessendorfer Mühle -, muss man mit Hilfe des aufgedruckten Zifferncodes herausfinden, wo der Hühnerstall steht. Bei Obst und Gemüse schreibt das Gesetz lediglich die Angabe des Herkunftslandes vor. Bei verarbeiteten Produkten können die Hersteller ganz schweigen.
Allerdings erlebten wir bei unserer Recherche in dieser Hinsicht kaum Probleme. Dass der Landliebe-Joghurt in Heilbronn und das gesamte in Deutschland vertriebene Nutella im hessischen Stadtallendorf hergestellt werden, teilten die Unternehmen uns ohne Umschweife mit. Schwieriger wurde es, wenn wir nach der Möglichkeit, die Produktion zu besuchen, fragten. Vor allem große Unternehmen taten sich schwer. Der italienische Nudelproduzent Barilla und der Eintopfhersteller Erasco verweigerten uns eine Visite.
Andere Unternehmen ermöglichten uns zwar den Besuch ihrer Produktion, überließen dann aber wenig dem Zufall. Wir bekamen zu sehen, was wir sehen sollten: die neueste Produktionslinie oder besonders motivierte Mitarbeiter. Fast immer durften wir in einigen Bereichen der Produktion nicht fotografieren. In der Lieken-Bäckerei im hessischen Stockstadt übernahm der Betriebsleiter gleich selbst die Tätigkeit des Fotografen. Manche Informationen wiederum erhielten wir nur mit dem Hinweis: „Das dürfen Sie jetzt aber nicht schreiben.“
Natürlich wissen wir um die Bedeutung von Betriebsgeheimnissen - vor allem für die Konkurrenz. Interessant ist die Erkenntnis, dass manches Unternehmen eine recht eigenwillige Vorstellung von Geheimniswahrung hat. So ließ Ferrero, der Hersteller von Nutella, zwar mit sich reden - aber nicht in seinem Werk in Stadtallendorf, sondern nur in der Zentrale in Frankfurt/Main. Ein Besuch der Produktion war nicht möglich. Auch bei Weihenstephan, wir hatten den Erdbeer-Rahm-Joghurt gekauft, blieb es bei einem Gespräch in der Verwaltung.
Der Lebensmittelmarkt ist global und hart umkämpft. Die Gewinnmargen sind oftmals gering. Nicht selten - der Milchmarkt ist ein Beispiel dafür - dominieren einige große Unternehmen das Geschäft. Zudem achten gerade in Deutschland viele Konsumenten beim Essen auf den Preis, was Produzenten gehörig unter Druck setzt. Dass Unternehmen sich deshalb bei ihrem Allerheiligsten bedeckt halten, konnten wir ohne Probleme nachvollziehen.
Dass es aber auch anders geht, erfuhren wir bei kleineren Unternehmen und bei landwirtschaftlichen Betrieben, die eine Nische gefunden haben. Heinz Elfenkämper-Raymann vom Hamfelder Hof, von dort kam unsere Bio-Milch, oder Kurt Schultz von der Nessendorfer Mühle hatten keine Probleme mit unserem Besuch. Auch im Fleischwerk Valluhn, hier wird für Edeka die Leberwurst produziert, oder im Geflügelzuchtbetrieb in Emlichheim an der Grenze zu den Niederlanden waren wir herzlich willkommen.
Alles in allem erlebten wir eine „Offenheit in Grenzen“. Nahrungsmittelherstellern und Landwirten ist sehr wohl bewusst, wie verunsichert viele Konsumenten infolge von Pferdefleisch in der Lasagne, Dioxin in Bio-Eiern oder Antibiotika in Schweinefleisch sind. Nicht selten führten unsere Gesprächspartner die Lebensmittelskandale aber auf kriminelle Energie Einzelner und die Globalisierung der Wirtschaft zurück. Je weiter weg ein Produktionsstandort ist, desto schwieriger wird es, die Einhaltung von Regeln zu kontrollieren.
Regeln und Kontrollen zur Qualität gibt es in der deutschen Nahrungsmittelindustrie reichlich. Experten zufolge sind nur wenige Rechtsgebiete so reglementiert. Christina Schraml, Leiterin des Qualitätsmanagements bei FrieslandCampina in Heilbronn, weiß ein Lied davon zu singen. In ihrem Labor kontrollieren ihre Mitarbeiter jedes Produkt stichprobenartig. Dabei geht es nicht nur um Aussehen, Konsistenz und Geschmack, sondern auch um die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften.
Zudem wird von den Lebensmittelherstellern ein lückenloser Nachweis der Produktion gefordert. Als wir Jürgen C. Grallath, Chef der Winzergenossenschaft Deutsches Weintor, nach der Herkunft des Weines in unserer Flasche Gewürztraminer fragten, zeigte er auf die zwölfstellige Nummer auf dem Flaschenetikett. „Fünf steht für die Pfalz, 042 für Ilbesheim, 092 für das Deutsche Weintor, 207 für die 207. Füllung und 10 für das Jahr 2010.“
Dann ließ Grallath sich die Akten des Vorjahres vorlegen. „Für diesen Gewürztraminer haben neun Winzer insgesamt 24.686 Kilogramm Trauben geliefert.“ 18.000 Liter Wein seien aus diesen Trauben gemacht worden. Selbst die genaue Liefermenge jedes Winzers konnte Grallath angeben. Die kleinste lag bei 234 Kilogramm, die größte bei 2810 Kilo.
Außerdem haben die Weintor-Winzer sämtliche ihrer Anbauflächen digital erfasst, um für unangekündigte Kontrollen gewappnet zu sein. So können sie genau sagen, wo welche Reben stehen. Bei einer Kontrolle wählt ein Zufallsgenerator eine Fläche aus. Drei unabhängige Prüfer machen sich dann auf den Weg, messen Säuregehalt sowie ph-Wert und prüfen, ob zu viel oder zu wenig Dünger eingesetzt wurde.
Regionale Versorgung funktioniert nicht immer
Zahlreiche Lebensmittelhersteller verweisen auf diese große Kontrolldichte, die für die hohe Qualität der hierzulande vertriebenen Nahrungsmittel sorgt. Landwirte wie Heinz Elfenkämper-Raymann und Kurt Schultz setzen dagegen auf regionale Geschäftsbeziehungen. Wenn Elfenkämper-Raymann für seine 65 Milchkühe doch einmal zusätzliches Getreide benötigt, dann kauft er „Biolandware bei Bauern zu, die wir kennen“.
Der Grund heißt Vertrauen. Man sieht es dem Futter nicht an, wenn es gentechnisch verändert oder mit Schadstoffen verunreinigt ist. „Ich muss mich darauf verlassen, dass das beigelegte Zertifikat echt ist und die Ware geprüft wurde“, sagt Elfenkämper-Raymann. Deshalb machen er und Schultz lieber mit Zulieferern Geschäfte, die sie kennen. Beide Landwirte halten regionale Landwirtschaft für eine Möglichkeit, Lebensmittelskandale zu verhindern.
Nahrungsmittelproduktion in der Region bedeutet für die beiden zudem, „die Wertschöpfungskette möglichst hier in der zu Umgebung halten“, wie Elfenkämper-Raymann es ausdrückt. Deshalb arbeiten er und die Mitglieder seiner Genossenschaft vornehmlich mit örtlichen Handwerkern zusammen. Schultz wiederum beschäftigt neun Arbeitskräfte, obwohl die Arbeit auch mit weniger Händen zu schaffen wäre. Soziale Verantwortung nennt er das.
Regionale Versorgung funktioniert natürlich nicht bei jedem Lebensmittel. Kaffee oder Bananen wachsen nicht in der norddeutschen Tiefebene und echter Emmentaler Käse muss im Schweizer Emmental hergestellt worden sein. Allerdings ist Deutschland trotz seiner starken Industrie nach wie vor ein Land, in dem viele Lebensmittel wachsen oder produziert werden.
Man muss daher nicht dem Verzicht das Wort reden. Aber die Ergebnisse unseres Projektes legen nahe: Mit ein wenig Aufmerksamkeit können Konsumenten eine ganze Menge an Nahrungsmittel kaufen, die aus einem Umkreis von 150 Kilometern stammen.
Die Sensibilität dafür ist in der Gesellschaft gewachsen. Inzwischen kauften rund 37 Prozent der Deutschen regelmäßig regionale Produkte, schreibt Stiftung Warentest und bezieht sich auf eine Studie des Nestlé-Konzerns. Bei Bioware liegt der Anteil lediglich bei 13 Prozent.
Allerdings machen Verbraucher bei der Art der Lebensmittel Unterschiede. Bei frischem Obst und Gemüse legten 80 Prozent großen Wert auf die Herkunft aus der Region, ergab eine eigene Studie von Stiftung Warentest. Bei Obst- oder Gemüsekonserven oder bei Tiefkühlkost sind es lediglich zwölf Prozent der Konsumenten.
Es geht den Verbrauchern in erster Linie nicht um Bio. Sie wollen die regionalen Landwirtschaft stärken, die Umwelt schonen und erhoffen sich durch kürzere Transporte frischere Lebensmittel. 70 Prozent der von der Stiftung Warentest Befragten meinten, regionale Produkte sollten nicht nur in der Region verarbeitet, sondern dort auch angebaut oder hergestellt werden.
Viele Lebensmittelhersteller arbeiten schon aus Kostengründen eng mit Zulieferern aus der Region zusammen. FrieslandCampina beispielsweise bezieht für die Herstellung seines Grießpuddings in Heilbronn die Milch von rund 700 Landwirten, deren Höfe in einem Umkreis von 120 Kilometern liegen. Auch die Bad Schwartauer Marmeladenhersteller lassen sich die Erdbeeren für die Lieblingsmarmelade der Deutschen überwiegend von Landwirten aus der näheren Umgebung liefern.
Region wird unterschiedlich definiert
Inzwischen hat der Handel auf den Boom regionaler Produkte reagiert. Viele Supermärkte bieten auf speziellen Flächen derartige Nahrungsmittel an. Allerdings garantiert der Aufdruck ‚Regional’ „in erster Linie eine bestimmte Herkunft – mehr nicht“, schreiben die Autoren der Warentest-Studie. Zudem definierten Supermarktketten den Begriff Region unterschiedlich. Manche sehen „darunter ihr jeweiliges Absatzgebiet, mitunter sind das mehrere Bundesländer“. Die Folge: Die Transporte werden länger.
Natürlich geht es in einer Marktwirtschaft auch bei der Produktion von Nahrungsmitteln um Wirtschaftlichkeit. Schultz und Elfenkämper-Raymann habe ihre Nische gefunden. Die funktioniert - das räumen beide freimütig ein -, weil es die Metropole Hamburg als Absatzmarkt gibt. Wenn der Liter Milch vom Hamfelder Hof im Supermarkt bei fast 1,30 Euro kostet, dann liegt das weit über dem Discounterpreis, der deutlich unter der Ein-Euro-Marke zu finden ist. Und wenn das Viererpack Eier von Kurt Schultz in der Hansestadt für gut 1,80 Euro über den Ladentisch geht, weiß er: Hier leben wohlhabende Menschen, die sich ihr Essen etwas kosten lassen.
Die Nischen im Lebensmittelmarkt und die Zahl der Menschen, die bereit sind, für Essen mehr auszugeben, sind jedoch überschaubar. Deutschland gehört europaweit zu den Nationen, in denen die Konsumenten vergleichsweise wenig für Lebensmittel bezahlen. Lediglich rund zehn Prozent ihres Haushaltsbudgets geben die Deutschen dafür aus und bestimmen damit erheblich die Bedingungen, unter denen Lebensmittel produziert, Nutztiere gehalten oder Pflanzen angebaut werden.
Die Folgen konnten wir bei unserem Besuch auf dem Bauernhof von Georg Stübl in Oberbayern erleben. 30 Rinder stehen in seinem Stall. Für mehr reichen die neun Hektar Land nicht, auf denen das Futter für die Tiere wächst. Stübl arbeitet eigentlich als Maurer und betreibt die Rinderzucht als Nebenerwerb. Der Grund ist einfach: Rinderhaltung in kleinerem Maßstab lohnt in Deutschland nicht (mehr). 300 Euro muss Stübl für ein 90 Kilogramm schweres Kalb zahlen. Dann versorgen seine Frau und er das Tier gut zwei Jahre, bis das Schlachtgewicht von rund 650 Kilogramm erreicht ist. „Vom Schlachthof bekommen ich für ein Rind zwischen 1100 und 1200 Euro“, sagte der Landwirt und fügte hinzu: „Zwischen 100 und 150 Euro bleiben am Ende übrig.“ Davon kann man nicht leben.
Auch Bert Vogel, der in Emlichheim die Hühnerzucht betreibt, verweist auf den Markt. Der Niederländer kann sich vorstellen, Biohähnchen aufzuziehen. „Ich hätte damit kein Problem und würde das auch machen.“ 16 oder gar 17 Euro würde ein Hühnchen dann allerdings kosten. „Die meisten Kunden sind nicht bereit, so viel Geld zu bezahlen.“
Billige Lebensmittel waren ein Thema, das uns auf unseren Recherchereisen ständig begleitete. Die Antworten, die wir auf unsere Fragen dazu erhielten, ähnelten einander. Wer in Deutschland mit seiner ausgeprägten Discounterkultur konkurrenzfähig sein will, der muss genau rechnen und sich von romantischen Vorstellungen über Land- und Tierwirtschaft verabschieden. Überdimensionierte Schweine- oder Rindermastbetriebe, so moralisch bedenklich sie sein mögen, sind auch die logische Konsequenz der Jagd vieler Konsumenten nach preiswerten Lebensmitteln.
Die eigentliche Nahrungsmittelproduktion hat sich längst zu einer Industrie entwickelt. Egal ob FrieslandCampina in Heilbronn Landliebe-Joghurt oder Mondelez in Lörrach Milka-Schokolade herstellt: die Produktionsstätten erinnern an Industriebetriebe mit hohem Automatisierungsgrad - kaum Menschen, Rohre, die aus Wänden kommen, und Rohre, die in Wänden verschwinden. Dazu meterhohe Tanks oder sich drehende Walzen, Metalltreppen, hier und da ein Bildschirm, auf dem Zahlen flackern.
Wer das erste Mal an der Backstraße für Harry-Vollkornbrot in Soltau oder für Leibnitz-Butterkekse in Barsinghausen vorbeigeht, muss sich erst daran gewöhnen, dass hier niemand knetet oder backt, sondern Maschinen den Misch- und Backprozess übernehmen. Die meisten Mitarbeiter, so scheint es, arbeiten in Verpackungsabteilungen, weil dort noch viele Arbeiten per Hand erledigt werden.
In Deutschland gibt es rund 5900 Unternehmen, die Lebensmittel produzieren. Mehr als eine halbe Million Menschen haben in dieser Industrie, deren Jahresumsatz bei mehr als 150 Milliarden Euro liegt, einen Job. Auch wenn die Ernährungsbranche hierzulande durch mittelständische Unternehmen geprägt ist: Es bleibt eine Industrie - hoch technisiert, oft automatisiert und streng durchorganisiert.
Landwirte wissen sehr wohl um die Gratwanderung zwischen den Vorgaben des Marktes, effizient und konkurrenzfähig zu produzieren, und dem Anspruch, das möglichst auf eine natürliche Art und Weise zu tun. Auf der Freestem-Tomatenfarm im niederländischen Naaldwijk hoffen sie, einen Mittelweg gefunden zu haben.
Das Tomatengewächshaus gleicht mit seiner Fläche von 9,5 Hektar eher einer gläsernen Flugzeughalle. Reihe um Reihe wachsen Tomatenpflanzen gut vier Meter in die Höhe. Mitarbeiter schieben auf zwei Schienen, wie man sie aus dem Bergbau kennt, kleine Wägelchen und ernten die Tomaten im Akkord: immer möglichst gleich groß, gleich rot und mit dem gleichen Geschmack. Industrieller, so scheint es, geht Tomatenproduktion kaum.
Zugleich erzählt Manager Wilko Wissen von Hummeln, die man nutze, „um Blüten zu befruchten“. Die Zufuhr von Nährstoffen wird streng kontrolliert und auf eine Mindestmenge reduziert. Um Schädlinge zu bekämpfen, setzen die Tomatenbauern auf die Schlupfwespe. „Sie lebt von Schädlingen, die einer Tomatenpflanze gefährlich werden können“, sagt Wissen.
Integriert heißt nachhaltig
Ähnlich geht Harry Eckhoff vor, der im Alten Land vor den Toren Hamburgs integrierten Obstanbau betreibt. Integriert heißt nachhaltig, nicht Bio und ist der Versuch, auf weitgehend natürliche Art Äpfel anzubauen, dabei aber konkurrenzfähig zu bleiben. Um das ökologische Gleichgewicht zu halten, hat Eckhoff einen Steinhaufen für Wiesel und eine Sitzstange für Greifvögel errichtet. Er achtet darauf, den Boden nicht unnütz zu verdichten und setzt auf Nützlinge wie Schlupfwespen oder Raubmilben.
Aber Eckhoff betreibt, um das ganze Jahr liefern zu können, auch eine hermetisch abgeschlossene Halle. Darin lagert er einen großen Teil seiner Ernte bei Temperaturen knapp über null Grad und einer Sauerstoffkonzentration in der Luft von 1,2 Prozent. Umweltschützer diskutieren längst über die ökologischen Kosten der monatelangen Lagerung. Gut vier Monate nach der Ernte wird es – betrachtet man allein die Energiebilanz – für heimische Äpfel kritisch. Dann ist ein in Südamerika oder Argentinien gerade gepflückter Apfel energieeffizienter.
Natürlich stellten wir uns bei unseren Recherchen oft die Frage, ob die Produktion von Lebensmitteln nicht grundlegend anders organisiert werden könnte. Wer in der Emlichheimer Hähnchenzuchtanlage in einer feuchtwarmen Halle inmitten von 20.000 niedlichen, aber dem Tod geweihten Küken steht oder im Fleischverarbeitungsbetrieb Valluhn erlebt, wie an Haken aufgehängte Schweinehälften im Sekundentakt an ihm vorüberziehen, bleibt davon nicht unberührt.
Das ehrliche Erschrecken über eine derartige Produktionsweise wirft aber zugleich Fragen zu den Alternativen auf: Sind 80 Millionen Deutsche auf einem anderen Weg satt zu bekommen? Oder gar die rund sieben Milliarden Menschen auf unserem Planeten? Wären Lebensmittel bei einem generellen Verzicht auf Massenproduktion noch zu bezahlen? Wie steht es mit der Verantwortung der Konsumenten, wenn es beispielsweise darum geht, Fleisch aus kleinbäuerlicher Hofhaltung zu kaufen? Wie viele wären gar bereit, Verzicht zu üben?
In unserer globalisierten Welt ist längst auch die Produktion von Lebensmitteln global. Daher muss diese eigentlich auch international diskutiert werden. So ist in wirtschaftlich aufstrebenden Schwellenländern in den vergangenen Jahren die Nachfrage nach Hühnerfleisch, Milchpulver oder Zucker sprunghaft gestiegen - genauso wie die Konkurrenz für deutsche Hersteller.
Die Nordzucker AG aus Uelzen, unser Zucker kam von dort, ist Europas zweitgrößter Zuckerproduzent und erwirtschaftete im vergangenen Geschäftsjahr bei einem Umsatz von 2,4 Milliarden Euro einen Gewinn von 250 Millionen Euro. So erfolgreich zu bleiben, werde nicht einfach, erklärte uns Georg Sander, Manager Rübenbeschaffung bei Nordzucker. Experten gehen längst davon aus, dass die zuletzt auf dem europäischen Markt realisierten 738 Euro je Tonne Zucker kaum zu halten sein werden.
Es gibt keine einfachen Antworten, wenn es um die Produktion von Nahrungsmitteln geht. Das betrifft auch den Umstand, dass unser Wohlstand in anderen Teilen der Welt zu Lasten von Menschen geht. Ein Beispiel ist die erschreckende Seite der Schokoladenproduktion.
Der Kakao für Milka-Schokolade kommt auch aus Westafrika. Wie Hilfsorganisationen berichten, werden bei der Ernte von Kakaobohnen dort rund 600.000 zum Teil aus Nachbarländern entführte Kinder eingesetzt. Ein Verzicht auf den Import von Kakaobohnen aus Westafrika hätte zur Folge, dass wir hierzulande auf Schokolade verzichten müssten. Andererseits würden viele Tausende afrikanische Kleinbauern ihre Existenzgrundlage verlieren, fänden sie für ihre Kakaobohnen keine Abnehmer mehr.
Rund 400 Millionen Dollar will Milka-Hersteller Mondelez in den kommenden zehn Jahren investieren, „um die Lebensumstände von mehr als 200.000 Kakaobauern und rund einer Million Menschen in Anbaugemeinschaften zu verbessern“, sagte Firmensprecherin Tanja Scheil. Das mag angesichts von jährlichen Milliardengewinnen, die Mondelez macht, wenig sein. Aber es ist ein Anfang.
Wir sind bei unserer Recherchen wiederholt zunehmender Sensibilität der Hersteller für soziale Fragen begegnet. Ob diese Empfindlichkeit auf eigener Einsicht beruht, auf öffentlichen Druck hin entstand oder an Bedeutung gewonnen hat, weil ein gutes Image zu einem wirtschaftlichen Sachzwang geworden ist, mag jeder für sich entscheiden.
Die Folge ist aber, dass mehr Lebensmittelproduzenten als früher auf halbwegs faire Produktionsbedingungen achten. Der US-amerikanische Eiscremehersteller Ben & Jerry’s legt beispielsweise Wert darauf, dass alle Bestandteile der Eiscreme fair gehandelte Produkte sind. „Die Bauern bekommen für die Rohstoffe einen garantierten Preis, der mindestens auf dem Niveau des Weltmarktes liegt“, sagt Wouter Smit, der das europäische Werk im niederländischen Hellendoorn leitet.
Durch eine faire Bezahlung der Bauern will das Unternehmen sicherstellen, dass diese vom Ertrag ihrer Arbeit in Würde leben, ihren Kindern eine Ausbildung ermöglichen und gute Arbeitsbedingungen für ihre Angestellten schaffen können. Fairtrade bedeute, dass jeder „sein Stück vom Kuchen erhält“, sagte Smit. Ernüchternd ist, dass deutsche Verbraucher im vergangenen Jahr lediglich sechs Euro für Fairtrade-Produkte ausgaben.
Allerdings ist das System des Fairtrade in die Kritik geraten. Sergio Neira, ein peruanischer Kaffeebauer, glaubt längst nicht mehr, dass der faire Handel so läuft, wie er laufen sollte. „Wir Kleinbauern werden immer mehr an den Rand gedrängt“, sagte er, als wir ihn in seiner Heimat besuchten. „Die Nachfrage nach fairem Handel wächst, große Händler wollen ihr Geld damit verdienen.“
45.461 Kilometer also hatten all die Produkte zusammen zurückgelegt, die wir an jenem Märzfreitag in unseren Einkaufswagen legten. Für manche ist das (zu) viel, für andere überraschend wenig. Gewöhnt haben wir uns alle daran, Nahrungsmittel aus aller Welt im Supermarkt um die Ecke zu bekommen.
Und doch ändert sich etwas. Lebensmittelskandale lassen vermehrt Menschen umdenken. Sie wollen nicht nur sicher sein, dass in einer Lebensmittelverpackung das drin ist, was drauf steht. Sie entscheiden sich auch aus gestiegenem Umweltbewusstsein gegen Milch, die aus Süddeutschland nach Hamburg gekarrt werden muss, oder verzichten im Januar auf Erdbeeren, die aus China stammen.
Für uns ist das der Anlass eines weiteren Rechercheprojekts. Wir werden im kommenden Herbst einen Monat lang ausprobieren, mit möglichst vielen in der Region hergestellten Lebensmitteln auszukommen.
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