Er hat den Versandhandel revolutioniert und sich mit seinem Einsatz für Umwelt und Soziales einen Namen gemacht. Heute wird er 70 Jahre alt.
Hamburg. Die Pilosella ottonis ist eine eher wählerische Pflanze. Das Habichtskraut mit den kleinen, gelben Blüten gedeiht nur auf Magerwiesen im Spessart und verbreitet sich dort mit seinen bis zu 50 Zentimeter langen, rankenartigen Ausläufern. Hübsch, aber auch ein wenig unscheinbar wirkt die Pflanze - kein Kraut, das einem Wanderer bei einem Streifzug durch die Berge sofort ins Auge fällt.
Ob sich aus diesen Eigenschaften Parallelen zum Charakter von Michael Otto ableiten lassen, mag dahingestellt bleiben. In jedem Fall fand es die Umweltorganisation WWF passend, das neu entdeckte Kraut nach dem Hamburger Unternehmer und Versandhändler zu benennen. Quasi als Blumengruß zum 70. Geburtstag, den der langjährige Chef der Otto Group und jetzige Aufsichtsratsvorsitzende heute feiert. Eine Anerkennung für seinen unermüdlichen Einsatz für die Umwelt soll dies sein.
Die Liebe zur Natur, zu schroffen und unberührten Landschaften, das ist die eher unbekannte Seite des Milliardärs, Stifters und Mäzens. Erst im Herbst des vergangenen Jahres ist Otto mit einem einheimischen Führer durch die Ausläufer des Tienshan-Gebirges in Kasachstan geritten. Hat in einem Zelt übernachtet und dem Heulen der Wölfe zugehört. In der endlosen mongolischen Steppe begleitete der Unternehmer vor einiger Zeit eine Karawane, half beim Aufbau der Jurten, staunte über die einfachen, aber effektiven Techniken der Nomaden.
Auch nach Afrika, wo sich Otto seit Jahren für bessere Anbaubedingungen, höhere Einkommen und eine bessere Schulbildung der dortigen Baumwollbauern einsetzt, zieht es den Hanseaten immer wieder. In Benin haben ihm Dorfbewohner als Dank für eine neue Schule mal zwei lebende Hühner geschenkt, die er mit freundlichen Worten zurückgab, weil er sie schlecht in den Koffer packen konnte. Gerührt war er aber doch.
Seit Otto vor gut fünf Jahren den Vorstandsvorsitz des weltgrößten Versandhandelskonzerns an seinen langjährigen Mitarbeiter Hans-Otto Schrader abgetreten hat, nimmt er sich mehr Zeit für solche Expeditionen. Lockerer sei der hoch gewachsene Mann mit dem akkuraten Scheitel geworden, sagen Weggefährten. Die Verantwortung für das Wohlergehen des weltgrößten Versandhändlers mit fast 54.000 Mitarbeitern lastet nicht mehr ganz so stark auf seinen Schultern.
Wenn Michael Otto in Hamburg ist, dann erscheint er aber auch heute noch regelmäßig in seinem weitläufigen Büro im sechsten Stock an der Wandsbeker Straße, bespricht mit den Vorständen die Strategie des Versandhandelskonzerns, drängt auf eine höhere Internetpräsenz oder erkundigt sich über den Stand der bevorstehenden Umstrukturierungen.
Ein Familienunternehmen sei wie ein "Kind, das man aufwachsen sieht und das man begleitet und unterstützt", hat der Hamburger einmal in einem Gespräch mit dem Abendblatt gesagt. Das sind mehr als schöne Worte. "Michael Otto ist ein Unternehmer, dem das Wohl seiner Mitarbeiter wirklich am Herzen liegt", bescheinigt ihm etwa der Konzernbetriebsratsvorsitzende Uwe Rost, der im Kampf um Arbeitsplätze und Strategien ansonsten kaum ein Blatt vor den Mund nimmt.
Rund 26 Jahre hat Michael Otto die Gruppe geführt und zu einem weltweit agierenden Unternehmen mit Standorten in mehr als 20 Ländern geformt. Eine wirkliche Wahl hatte der zurückhaltende Mann freilich nicht. Sein Vater, der 2011 verstorbene Gründer Werner Otto, hatte den Sohn bereits früh zu seinem selbstverständlichen Nachfolger und Kronprinz erkoren.
Schon als Kind spielte Michael Otto auf dem Gelände der kleinen Schuhfabrik, die sein Vater nach dem Krieg im zerstörten Hamburg aufgebaut hatte. Der Fünfjährige sammelte Lederreste, um sie dann beim nächsten Schuster zu verkaufen und sich so ein kleines Taschengeld zu verdienen. Währenddessen war der Vater dabei, die Fabrik in einen Schuhversand und wenig später in den Handelskonzern von heute zu verwandeln.
Mediziner wäre Michael Otto gerne geworden, doch er entschied sich letztlich doch für den Einstieg in den Konzern. Zumindest konnte er dem Vater eine gründliche Ausbildung abringen. Nach dem Abitur absolvierte Otto eine Banklehre, studierte in München Volkswirtschaft und promovierte über "Die Absatzprognose im Versandhandel". Parallel dazu baute der angehende Doktor ein Immobiliengeschäft auf, das ihn zumindest formell von der Familie unabhängig machte. Ein wichtiger Abnabelungsprozess, den Otto auch den eigenen Kindern zugestanden hat.
Mit 28 Jahren kehrte der Junior ins väterliche Unternehmen zurück, zunächst als Leiter des Textileinkaufs. Ein Testressort, in dem sich der Akademiker bewähren musste. Er leitete erste Reformen ein, übernahm zehn Jahre später den Vorstandsvorsitz. Vor allem die Internationalisierung trieb der Chef mit dem Spitznamen "Doktorotto" voran, formte aus dem rein deutschen Versender Schritt für Schritt einen Weltkonzern, der heute von Japan über England bis Südamerika aktiv ist. Meist bewies er dabei ein sicheres Gespür für lukrative Märkte, leistete sich allerdings auch einige spektakuläre Flops. So schlitterte die US-Tochter Spiegel in die Krise, was unangenehme Ermittlungen der Börsenaufsicht nach sich zog.
Unter Ottos Ägide ist der Versandhändler aber auch zu einer weit verzweigten Firmengruppe geworden, die sich auf ganz unterschiedliche Zielgruppen spezialisiert hat. Preisbewusste Kunden kaufen heute bei der Tochter Bonprix, konservative, ältere Verbraucher beim Baur-Versand. Der Konzern besitzt mit Ketten wie SportScheck starke Standbeine im stationären Einzelhandel, Sparten wie der Logistiker Hermes oder die Finanzdienstleistungen tragen große Teile zum Umsatz von zuletzt 11,8 Milliarden Euro bei.
Früher als viele andere setzte Otto auf das Internet als zusätzlichen Vertriebskanal, was die Gruppe heute zum weltweit zweitgrößten Onlinehändler hinter Amazon gemacht hat. Im deutschen Kerngeschäft kommen heute schon 80 Prozent der Erlöse aus dem E-Commerce.
Parallel zu seiner Arbeit als Unternehmer hat sich Otto den Ruf als engagierter Umweltschützer erarbeitet. Schon während seiner Münchner Studienzeit setzte er sich im Umfeld der 68er-Bewegung mit sozialen und grünen Themen auseinander. Der Bericht an den Club of Rome über die "Grenzen des Wachstums" wurde Anfang der 70er-Jahre zu einer Schlüssellektüre.
Wie wenige zog Otto daraus Konsequenzen, führte früh Mülltrennung und umweltfreundliche Verpackungen ein, verbannte Pelze oder giftige Lacke aus dem Sortiment. Umweltschutz erhob er zum Unternehmensziel, startete zahlreiche Initiativen. Seine eigene Stiftung etwa setzt sich für den Schutz der Gewässer ein.
Soziale und ökologische Standards im eigenen Konzern aufrechtzuerhalten oder noch zu verbessern, ist für Michael Otto allerdings nicht einfacher geworden. Die Konkurrenz aus dem Internet setzt die Hamburger unter Druck, für viele Käufer zählt vor allem der Preis. Stimmt der nicht, wandern sie zur US-Konkurrenz oder aggressiven Wettbewerbern wie Zalando ab.
Der einstige Vorsprung, den die Otto Group im Netz hatte, ist dahin, der Konzern muss schlanker, flexibler und schneller werden. Rund 700 Arbeitsplätze wird Otto bis 2015 im deutschen Kerngeschäft, bei den Versendern Otto, Baur und Schwab streichen, allein in Hamburg sind 450 Stellen in Gefahr. Auch diese Maßnahme hat Michael Otto als Aufsichtsratschef abgesegnet. Er drängt zwar intern darauf, dass der Abbau ohne betriebsbedingte Kündigungen abläuft, sicher ist dies aber nicht. Bei der Logistiktochter Hermes musste sich Otto zudem mit dem Vorwurf ungerechter Subunternehmer-Strukturen und einer zu geringen Bezahlung der frei beschäftigten Paketboten auseinandersetzen. Nach der teils harschen Kritik versprach das hundertprozentige Tochterunternehmen Besserung und kündigte die Einführung einer Art Mindestlohn für die Hermes-Boten an.
Ob sich der Konzern den grundsätzlichen, sozialen Geist bewahren kann, wird nicht zuletzt von der nächsten Generation abhängen. Den Kindern Janina und Benjamin haben Otto und seine Frau Christl mitgegeben, dass sie von niemandem mehr verlangen sollen als von sich selbst.
Während die Tochter heute in der Entwicklungshilfe arbeitet, ist Sohn Benjamin, 37, seit dem vergangenen Jahr im Unternehmen tätig. Wie einst der Vater hat er zunächst außerhalb des Konzerns Karriere gemacht und muss sich nun in einem Projekt aus dem wichtigen Online-Bereich bewähren. Mit 60 Mitarbeitern entwickelt er gerade einen Internetshop namens Collins, der Mode und Lifestyle zum Wohnen für junge Frauen anbieten soll.
Ob der Sohn einmal den Vorstandsvorsitz übernehmen wird, lässt Michael Otto offen. "Im Augenblick ist Hans-Otto Schrader eine exzellente Besetzung", sagt der Aufsichtsratschef dazu in einem offiziellen Statement. "Das wird bis zu seiner Pensionierung so bleiben." Auf den Sohn übe er keinen Druck aus. "Er entscheidet selbst, wann und wie er die nächsten Schritte im Unternehmen machen möchte." Klar ist aber auch, dass der Senior bereit ist, zur Seite zu treten, wenn die Zeit für den Generationswechsel gekommen ist. "Ich halte nichts von der Rolle des Patriarchen, der nicht loslassen kann", sagt er.