Deutschland droht wegen der Schuldenkrise in Europa eine Wirtschaftsflaute. Doch vieles spricht dafür, dass der Durststrecke ein Boom folgt.
Berlin. Nach dem Aufschwung ist vor dem Aufschwung: Deutschland droht zwar wegen der Schuldenkrise in Europa und der schlappen Weltkonjunktur eine Wirtschaftsflaute. Doch vieles spricht dafür, dass der Durststrecke ein neuer Boom folgen wird. Die hohe Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen gepaart mit billigem Notenbankgeld bilden die Basis für den nächsten Boom. Zuvor muss jedoch die Schuldenkrise ihren lähmenden Schrecken verlieren.
„Der deutschen Wirtschaft ergeht es derzeit wie einem Auto, dessen Fahrer Vollgas gibt, aber vergessen hat, die Bremse zu lösen“, sagt Commerzbank-Ökonom Ralph Solveen. Werde die Bremse gelöst, nehme das Auto schnell Fahrt auf. „Dann dürfte insbesondere die Nullzinspolitik der EZB die Konjunktur anschieben und schrittweise einen Boom in Gang setzen.“ Dabei seien ähnliche Wachstumsraten wie 2010 und 2011 drin, als das Bruttoinlandsprodukt jeweils um 4,2 und 3,0 Prozent zulegte.
Zinsen auf Rekordtief
In diesem Jahr und auch 2013 droht allerdings eine Flaute: Nur 0,8 beziehungsweise 1,0 Prozent Wachstum erwarten die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute. Die Bundesregierung, die am Mittwoch ihre Prognose für das Bruttoinlandsprodukt aktualisiert, sieht das ähnlich. Hauptgrund: Die kraftlose Weltwirtschaft lastet auf der deutschen Export-Industrie.
Dabei sind die Finanzierungsbedingungen für die Industrie eigentlich so günstig wie nie: Wegen der Rezession in Italien, Spanien und anderen Euro-Ländern hat die EZB ihren Leitzins auf ein Rekordtief von 0,75 Prozent gesenkt. Die Mehrheit der über 100 von Reuters regelmäßig befragten Analysten rechnet 2012 mit einer weiteren Zinssenkung auf 0,5 Prozent. Frühestens im April 2014 dürfte die EZB vorsichtig beginnen, die Zinsen wieder schrittweise zu erhöhen. „Die Zinspolitik wird noch auf Jahre hinaus expansiv sein“, ist Postbank-Chefvolkswirt Marco Bargel überzeugt. „Und das nicht nur in Europa: Weltweit werden die Notenbanken ihre Niedrigzinspolitik fortsetzen.“
Besser als die USA
Das bedeutet billiges Geld für Unternehmen, die investieren und Verbraucher, die Häuser bauen oder größere Anschaffungen wie Autos machen wollen. Davon kann Deutschland wie kaum eine andere Volkswirtschaft profitieren. Denn die deutschen Unternehmen sind auf allen wichtigen Wachstumsmärkten präsent – von China über Brasilien bis Indonesien.
Dass gut Deutschland aufgestellt ist, bescheinigt auch das World Economic Forum. Nach seiner Studie ist die Bundesrepublik erstmals wettbewerbsfähiger als die USA und weltweit die Nummer sechs. Andere Untersuchungen kommen zu einem ähnlichen Schluss. Die Bundesrepublik gehört als einziger Euro-Staat zu den zehn wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaften der Welt, fand die Schweizer Business School IMD bei einer weltweiten Umfrage unter Tausenden Geschäftsleuten heraus. Nach einer Umfrage der Wirtschaftsprüfer Ernst & Young unter 400 großen und mittelständischen Unternehmen in China ist Deutschland in Europa das mit großem Abstand begehrteste Ziel für Investitionen und Zukäufe.
Unsicherheit lähmt noch
Noch neutralisiert die Staatsschuldenkrise allerdings den starken Schub durch Geldpolitik und Wettbewerbsfähigkeit, sagt Commerzbank-Analyst Solveen. Die schwächere Nachfrage nach Waren „Made in Germany“ aus den Euro-Peripherieländer sei dabei noch das geringere Problem. „Gravierender scheint die Unsicherheit über den Euro zu sein“, sagt Solveen. Die Angst vor einem Zerfall der Währungsunion lähmt Investitionen der Unternehmen.
Schwindet aber die Krisenangst, stehen die Signale rasch wieder auf Aufschwung. „Dann werden wir ganz mit vorne dabei sind unter den europäischen Staaten“, sagt Bargel.
Kommt die Inflation?
Die Commerzbank erwartet, dass der Krisen-Knoten Mitte des kommenden Jahres durchschlagen wird. „Spätestens 2014 dürfte die deutsche Wirtschaft ähnlich stark wachsen wie in den zwei Jahren zwischen Mitte 2009 und Mitte 2011“, sagt Solveen. Vor allem die EZB werde keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie den Euro erhalten wolle und bei Bedarf massiv Staatsanleihen von Schuldenländern kaufen werde, um deren Zinsen zu drücken.
Allerdings hat auch diese Medaille eine zweite Seite – und die heißt Inflation. „Für alle Zentralbanken ist es entscheidend, rechtzeitig Abschied von ihren außergewöhnlichen Maßnahmen zu nehmen, um zu verhindern, dass die großzügige Liquiditätsversorgung nicht zu einem Inflationsdruck wird“, warnt Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Das sehen Ökonomen ganz ähnlich. „Die weltweite Liquiditätsschwemme spielt sich bislang noch im Finanzsektor ab“, sagt Bargel. „Aber wenn die Kreditnachfrage anziehen sollte, wird sie überschwappen auf die Preise.“ Deutschland droht dann im Aufschwung eine höhe Inflation als im Euro-Raum – bislang war dies umgekehrt.