Der Streit um Street View geriet zu einer Art Kulturkampf. Doch noch dieses Jahr wird Googles Streetview an den Start gehen.

Wer im Internet die Google-Landkarte von West-Europa aufruft, der sieht inmitten unseres blau gefärbten Kontinents Deutschland als einen weißen Fleck. Dieser Fleck soll noch dieses Jahr blau werden. Dann bricht auch für Berlin, Bielefeld, Bochum, Bonn, Bremen, Dortmund, Dresden, Duisburg, Düsseldorf, Essen, Frankfurt/Main, Hamburg, Hannover, Köln, Leipzig, Mannheim, München, Nürnberg, Stuttgart und Wuppertal das Google-Street-View-Zeitalter an. Dann kann dort jeder mit seinem Handy, PC oder iPad aus der Reisebusperspektive zur ganz persönlichen Stadtrundfahrt aufbrechen, wo auch immer er auf der Welt Internetzugang hat.

Ein kleiner Schritt für den Netzreisenden, aber ein Riesenschritt für die Deutschen. Denn der Weg dahin war lang. Ein Kulturkampf wie einst bei der Einführung des elektrischen Lichts oder der Eisenbahn liegt hinter uns. Richtig angeheizt wurde der Streit durch eine Datenpanne bei Google. Beim Durchqueren der Städte in über dreißig Ländern speicherten Google-Fotomobile auch Nutzerdaten aus offenen Hausfunknetzen (WLAN). „Versehentlich“ wie der Internet-Konzern sich beeilte zu versichern. Doch die Empörung gegen die Herren des ohnehin schon weltweit größten Datenbestandes, der Suchgewohnheiten der Internet-Gemeinde dokumentierte, schlug jetzt erst recht hohe Wellen.

Zeitweilig forderten deutsche Datenschützer sogar ein Totalverbot von Street View, zumindest aber eine „Lex Google“, um das Projekt einzuhegen. Vorbehalte gegen Street View gab es zwar auch in England, Tschechien und der Schweiz, aber nirgendwo war der Widerstand gegen die flächendeckende Fassadenfotografie so umkämpft wie hierzulande. Eine oberbayerische Regionalzeitung, der „Donaukurier“, versuchte gar, Google-freie Zone zu erkämpfen. Das erwies sich auch zunächst als recht publikumswirksam, zumindest in Ingolstadt und Umgebung. Dann aber stellte sich heraus, dass auch der „Donaukurier“ Software von Google fürs Marketing nutzte. Gutes Google, böses Google? Der Ingolstädter Google-Kampf verebbte.

Bundesweit aber waren die Fronten so verhärtet, dass Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU) sich genötigt sah, als Speerspitze der Protestbewegung ihre Homepage zur Protestzentrale umzufunktionieren. Noch weiß niemand, wie viele deutsche Mieter und Hausbesitzer Aigners Handreichung folgten und per elektronischem Einspruchsformular die Unkenntlichmachung ihrer Behausung beantragten. „Hunderttausende“ sollen es sein, sagte die Ministerin am Freitag, dem Ablaufdatum der Einspruchsfrist für das Startangebot von Street View. Das Unternehmen sieht das anders. Bisher hat Google keine Angaben zur Anzahl der Beschwerden gegen das Street-View-Projekt gemacht. „Derzeit können wir noch keine seriöse Angabe über die Zahl der eingegangenen Anträge auf Unkenntlichmachung von Wohnungen oder Häusern abgeben“, sagte Google-Deutschland-Sprecherin Lena Wagner am Wochenende. Wie auch immer: Den Anträgen auf digitale Löschung von Fassadendetails will Google zwar auch weiterhin entsprechen. Nur wann das geschehen soll, bleibt unbestimmt.

Es kann gut sein, das das bald kaum noch jemanden interessiert. Denn hinter Street View steht eine gigantische Geschäftsidee. Eine Milliarde Dollar Umsatz machte Google laut dem letzte Woche vorgestellten Geschäftsbericht bereits mit mobilen Dienstangeboten. Die Steigerung des mobilen Internet-Geschäftes im nächsten Jahr wird weltweit auf 50 Prozent veranschlagt. Aus der Verbindung zwischen lokalen Informationen, Standortdaten und mobil am Netz hängenden Nutzern erwachsen ungeahnte Potenziale. Ein Zug der Zeit, der längst angekommen ist, längst vor dem Google-Fotomobil, auch in Deutschland.

Panogate heißt beispielsweise ein Kölner Start-Up-Unternehmen, dass bereits seit April 2009 zur virtuellen Stadtrundfahrt á la Google einlädt, zum Beispiel in Köln und Berlin (sightwalk.de). Einzelhändler können so über das Internet zum Rundgang durch ihre Ladenlokale und Einkaufspassagen einladen. „Kaum mehr als 100 Einsprüche“ wären gekommen, sagte Geschäftsführer Hendrik Wild (33) dieser Zeitung und findet die massenhaften Vorbehalte „teilweise unreflektiert“. Aber es gebe „sicher auch kritische Aspekte“ der neuen Dienste, sagt er. „Wir unterstützen die natürliche, visuelle Suche des Menschen“, stellt er lapidar fest und freut sich über seinen Geschäftserfolg im Schatten des Anti-Google-Kampfes, über den er sich so seine eigenen Gedanken macht. „Gerade die Deutschen sind affin dafür, sich Dinge anzugucken, ohne selbst dabei gesehen werden zu wollen“, hat er herausgefunden. Das entnimmt Wild Untersuchungen, die auch Innenminister Thomas de Maizière als Entscheidungsgrundlage kennt. Die Diskussion um Street View komme aber zum richtigen Zeitpunkt, meint Wild. Er frage sich nur, „ob sie immer so hysterisch geführt werden muss.“

Erklärungen für den Anti-Google-Furor gibt es viele. Tatsächlich ruft der kalifornische Internetkonzern mit dem sagenhaften Wachstum und Erfolg seiner globalen Unternehmungen Vorbehalte und Ängste hervor, wie sie zu allen Gründerzeiten aufkamen. Erst vergangene Woche sprang der Aktienkurs um neun Prozent nach oben. Google steht damit in der Tradition von Industriekomplexen wie General Electric (GE), dem zeitweise größten Elektro-Mischkonzern der Welt. Den hatte Thomas Alva Edison 1890 auf der Erfindung der modernen Glühbirne aufgebaut. Später stellte die GE alles her, was einen Stecker hat – vom Herzschrittmacher bis zum Atomkraftwerk.

Wer in die Geschichte von GE schaut, findet dort Berichte von Fürbitt-Gottesdiensten gegen die Einführung von Gleichstrom. Ähnlich wie der sogenannte „Stromkampf“ im Amerika des späten 19. Jahrhunderts ist auch heute der Weg zu den „last frontiers“ mit mannigfaltigen Fortschrittsängsten gepflastert. Zumal ja tatsächlich niemand weiß, was die Entwicklung als nächstes bringt. Und ähnlich wie die legendäre GE, hat sich Google längst von einer Anfangserfindung der genialen Internet-Suchmaschine zum Megakonzern entwickelt. Heute investiert Google in Windstrom ebenso wie in die Automatisierung des Autoverkehrs.

Ein „Stuttgart21“-Phänomen, ein aus dem Ruder laufender Kampf gegen Unwägbares, aber wird um Google-Street-View wohl ausbleiben. „Wir haben in beiden Fällen das Phänomen, dass der kleine Bürger sich als Objekt großer Veränderungen empfindet“, meint zwar Panogate-Geschäftsführer Wild. Aber das Fortschrittsversprechen von Google wird nicht erst in Jahrzehnten eingelöst, sondern in Monatsfristen. Das dürfte helfen. Street View startet bis Ende dieses Jahr in Deutschland.

Quelle: Welt Online