Indiens Polizei will das Verkehrschaos in NeuDelhi digital bekämpfen: Sie zeigt auf Facebook Beweisvideos von Straftaten.
Ein Mann liegt auf der Straße. Um ihn herum hat sich eine Lache aus Blut gebildet. Er schreit vor Schmerzen. Der Mann ist Opfer eines Verkehrsunfalls auf den Straßen von Neu-Delhi geworden – das Video dazu kann man sich jetzt auf den Seiten des Internetdienstes Facebook anschauen. Pradeep Verma hat den Clip auf die Seite der Verkehrspolizei der indischen Hauptstadt hochgeladen.
Auch Cj Singh hat im Verkehr der Millionenstadt ein Video gedreht: Ein Polizist fährt entgegen der Fahrtrichtung durch die Straßen. „Ich wollte zeigen, dass sich auch die Polizei nicht an die Regeln hält. Hätte ich nur ein Foto gemacht, hätte mir keiner geglaubt. Sie hätten gesagt, der Polizist habe jemanden verfolgt. Also habe ich ein Video gedreht. Da ist alles zu sehen“, sagt er.
Dutzende solcher Videos und fast 3000 Fotos haben User auf der Facebook-Seite der Polizei von Delhi bisher veröffentlicht. Zu sehen sind Rollerfahrten ohne Helm, waghalsige Überholmanöver, Verkehrsteilnehmer, die während der Fahrt telefonieren, bei Rot über die Ampel fahren und zahlreiche weitere Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung begehen. Das Durcheinander in den Straßen von Neu-Delhi ist enorm. Staus, Hupkonzerte, wütende Verkehrsteilnehmer und Unfälle sind an der Tagesordnung. „Das Fahren in Delhi ist verrückt“, sagt Cj Singh.
Vor zwei Monaten rief die überforderte Polizei der indischen Hauptstadt die Bürger dazu auf, über Facebook Verbesserungsvorschlage und Meinungen zum Verkehr öffentlich zu machen. Doch stattdessen schickten die User fleißig Beweismaterial gegen Verkehrssünder. Bisher zählt die Seite 17.632 Freunde. Mithilfe der digitalen Informanten stellte die Polizei schon 665 Strafzettel aus. „Die Verkehrssünder konnten über die Nummernschilder auf den Fotos ausfindig gemacht werden“, sagte der delhische Verkehrsbeauftragte Satyendra Garg der „New York Times“. Wer nun ein Verkehrsdelikt begehen will, muss sich nicht mehr nur nach der Polizei umschauen. Bewaffnet mit einer Handykamera, könnte jeder Verkehrsteilnehmer ein potenzieller Verräter sein.
Datenschutz ist in Indien kein Thema
„In Deutschland ist so etwas nicht möglich. Wenn jeder im Internet sehen kann, wer welches Delikt begangen hat, ist das ein Verstoß gegen den Datenschutz“, sagt Michael Merkle von der Berliner Polizei. In Neu-Delhi scheint Datenschutz hingegen kein Thema zu sein – die Verkehrspolizei dort sieht in der Initiative einen großen Erfolg. Doch nicht jeder ist begeistert. Auch Bedenken über gefälschtes Beweismaterial werden laut. Was passiert etwa, wenn ein unschuldiger Verkehrsteilnehmer mutwillig angeschwärzt wird? „Wer sich zu Unrecht beschuldigt fühlt, kann Widerspruch einlegen“, sagt Garg.
Bisher sind mit der Auswertung der veröffentlichten Dateien vier Polizisten rund um die Uhr beschäftigt. Auch an fünfzig ihrer Kollegen mussten sie schon Strafmandate wegen Missachtung der Verkehrsregeln schicken. Ob der Einsatz des sozialen Netzwerks der Polizei wirklich helfen wird, den wirren Verkehr auf Neu-Delhis Straßen unter Kontrolle zu bekommen, ist fraglich. Nur jeder vierte Einwohner hat überhaupt einen Internetanschluss, und die Polizei ist auch weiterhin stark unterbesetzt: Ein Verkehrspolizist kommt auf 1300 Fahrzeuge.
Um dieses Chaos in den Griff zu bekommen, bedürfe es mehr als ein paar Helfern via Facebook, glaubt der 23-jährige Ashish Kripala. „Es ist dringend erforderlich, gegen Verkehrssünder vorzugehen, die ihr eigenes und das Leben anderer in Gefahr bringen. Aber ich bin sicher, dass das Ausstellen von Strafzetteln die Mehrheit nicht davon abhalten wird, auch weiterhin die Regeln zu brechen“, sagte der Wirtschaftsstudent dem indischen Fernsehsender ndtv.
Doch andere wie der 35-jährige Software-Entwickler Vibhu Bansal glauben an die Entwicklung des Erfolgs: „Die Verkehrspolizei von Delhi hat den ersten Schritt gemacht. Ich hoffe, andere Departments und öffentliche Stellen werden ähnliche Initiativen ins Leben rufen.“ Vielleicht haben die Inder Glück, und Facebook kann in Zukunft Unfälle wie den in dem Video von Perdeep Verma verhindern helfen. Cj Singh glaubt, dass vor allem die jüngere Generation nun mehr auf die Regeln achten wird. „Es ist ein Anfang“, sagt der 25-Jährige.