Auf den ersten Blick erscheint der Beitritt Estlands zur Eurozone absurd. Die Währungsunion befindet sich schließlich in der größten Krise ihres Bestehens. Doch die EU-Kommission handelt völlig richtig, wenn sie den baltischen Staat nun hinein lässt. Denn Estland erfüllt sämtliche Kriterien – mit Zahlen, die die westlichen Nachbarn neidisch machen.
Vorwärts immer, rückwärts nimmer – dieser historisch belastete Spruch mag Euro-Zynikern in den Sinn kommen, wenn sie die Nachricht aus Brüssel hören: Estland erfüllt die Kriterien für den Euro. Am 1. Januar 2011 können die Balten als 17. Mitglied der Eurogruppe beitreten.
Wie kann die EU-Kommission bloß mitten in der größten Krise der Gemeinschaftswährung ein weiteres Land an den Tisch holen? Und dann auch noch eines aus dem hohen Nordosten, das erst 2004 der Europäischen Union beitrat! Haben die Euro-Staaten nicht schon Sorgen genug?
Erst mal Luft holen. Dann die Schläge dort verteilen, wo sie hingehören. Und das ist nicht bei der EU-Kommission. Denn die Brüsseler Behörde tut das, was ihr die Verträge vorschreiben und was ihr die Regierungen der Mitgliedstaaten aufgetragen haben. Und die Regeln besagen, dass ein Bewerber, der die Kriterien für den Euro-Beitritt erfüllt, grünes Licht bekommt. Basta. Ob das nun zu einem politische ungünstigen Zeitpunkt passiert, sei dahingestellt.
Vor ein paar Wochen bekam Island aus Brüssel das Plazet zu Beitrittsverhandlungen. Kriterien erfüllt, befand die Behörde. Ausgerechnet die Isländer, deren Banken zwei EU-Staaten vier Milliarden Euro schulden (und obendrein im Himmel über Europa mit ihrer Asche nichts als Chaos verursachen!).
Scherz beiseite. Es ist seit mehr als einem halben Jahrhundert der Wille der EU-Führer gewesen, die Union weiterzuentwickeln und sie in den Bereichen, die keinem Mitglied zu große Souveränität abtrotzen, zu vertiefen. Gerade Deutschlands Exportwirtschaft hat beispielsweise von der Erweiterung enorm profitiert. 500 Millionen Menschen leben in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum mit all seinen Vorzügen – aber eben auch seinen Nachteilen, wie die griechische Mega-Krise zeigt.
Was in Griechenland passiert ist, muss der Kommission wie dem Europäischen Rat dringend eine Lehre sein. Aber wieso soll nun ein Land, das sich in 20 Jahren aus eiserner sowjetischer Unterdrückung zu einem kleinen, aber starken Hightech-Wirtschaftsstandort entwickelt hat, für Athens Betrügereien büßen? Wie Währungskommissar Olli Rehn heute Mittag betonte: Die durchschnittliche gesamtstaatliche Verschuldung beträgt in der EU 75 Prozent, in Estland liegt sie bei 7,5 Prozent.
Der Euro ist neben dem Schengen-Raum die stärkste Vision, die Europas Spitzenpolitiker hatten. Aber ihre Umsetzung war in Teilen miserabel. Jetzt kommt es darauf an, schnell und effektiv die Schäden zu beheben. Dabei ist auch wieder die EU-Kommission gefragt – vor allem aber der ehrliche Wille der 27 Mitglieder. Ansonsten müssen sich die Esten ohnehin bald keine Gedanken mehr machen, ob sie der gemeinsamen Währung, dem Euro, beitreten.