Das britische Wahlsystem hat in den vergangenen Jahrzehnten fast immer für stabile Mehrheitsverhältnisse gesorgt. Doch das könnte sich am Donnerstag ändern: Bei den wichtigen Parlamentswahlen droht ein Ausgang ohne klare Mehrheit. Und der könnte die Finanzmärkte ordentlich durcheinander wirbeln.

Die Händler an der Londoner Terminbörse Liffe müssen sich auf eine lange Nacht einstellen. Kaffee und Red Bull könnten helfen, denn erstmals in der Geschichte der Derivatebörse eröffnet Liffe den Handel am Freitagmorgen schon um ein Uhr statt wie sonst um acht Uhr.

Der Grund für die außergewöhnliche Nachtschicht sind die heutigen Wahlen zum britischen Unterhaus. Gibt es keine klare Mehrheit, könnten das Pfund und die Preise für britische Staatsanleihen abstürzen. Viele Händler hatten deswegen das Management von Liffe gebeten, Donnerstagnacht kurz nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse loslegen zu dürfen.

Ein „hung parliament“ ist in den vergangenen Wochen in britischen Medien zum Horrorszenario schlechthin hochgeschrieben worden. Gemeint ist damit ein Wahlausgang ohne absolute Mehrheit für eine Partei. Was in Deutschland völlig normal ist, gab es in Großbritannien das letzte Mal 1974. Damals konnte der amtierende konservative Premier Edward Heath keine klare Mehrheit erlangen. Nach zähen Koalitionsverhandlungen zwischen den Konservativen und den Liberalen, bildete schließt Labour eine Minderheitsregierung. Acht Monate regierte der Labour-Premier ohne echte Legitimation, bevor er im Oktober 1974 schließlich Neuwahlen anberaumte.

Eine solche Phase der Unsicherheit könnte Großbritanniens ohnehin zarten Aufschwung hemmen, warnen nicht wenige Ökonomen. Kenneth Clarke, ehemaliger Schatzkanzler der Konservativen, formuliert die Gefahr noch etwas drastischer: Ein „hung parliament“ sei eine „Tragödie“ für das Land und würde „den Aufschwung töten“. Im schlimmsten Fall könnte es sogar dazuführen, dass Großbritannien bald wie Griechenland den Internationalen Währungsfonds um Geld anbetteln müsse. Denn ein politisches Machtvakuum könnte Hedgefonds dazu verleiten, auf den Fall der britischen Staatsanleihen zu wetten und das Pfund in den Keller zu schicken.

Tatsächlich kann es sich Großbritannien nicht leisten, noch länger in Wartestellung zu verharren. Investoren erwarten eine Antwort auf die Frage, wie das Land seinen immensen Schuldenberg abbauen will. Um das EU-Defizitkriterium von Maastricht einzuhalten, müsste Großbritannien jährlich sogar mehr sparen als der Krisenstaat Griechenland.

Aber längst nicht alle Analysten glauben, dass ein „hung parliament“ dem Land schaden würde. Alles Panikmache, findet zum Beispiel Chris Huhne, einer der Spitzenkandidaten der Liberal Democrats. Schließlich hätten zehn der 14 existierenden Länder mit dem Top-Kreditrating AAA auch keine Mehrheitsregierung sondern würden von einer Koalition oder einer Minderheitsregierung geführt. Auch die Ratingagentur Moody’s steht einem „hung parliament“ gelassen gegenüber. Ein von einer Koalition beschlossenes Sparprogramm könnte sogar besser sein als das einer Einparteienregierung mit knapper Mehrheit, sagt Arnaud Marès, Chefanalyst von Moody’s in London. „Es würde schließlich durch eine breitere öffentliche Unterstützung legitimiert sein.“

Dass gespart werden muss, darüber sind sich alle drei großen Parteien einig. „Harte Einschnitte“, kündigten die Führer von Labour, den Konservativen und den Liberalen unisono an. Nur über das wann und wie herrscht Dissens im Detail. Tory-Chef David Cameron versprach, im Falle eines Wahlsiegs sofort ein „Kriegskabinett“ zu bilden. Bis Juni solle das einen Notfallhaushalt erstellen, mit dem noch in diesem Jahr sechs Mrd. Pfund eingespart werden könnten. Labour und die Liberalen wollen dagegen erst 2011 mit dem Sparen beginnen. Alles andere würde den zarten Aufschwung und Tausende von Arbeitsplätzen gefährden, warnte gerade Premierminister Gordon Brown (Labour) immer wieder.

Dass er eine weitere Amtszeit regieren darf, ist allerdings ohnehin recht unwahrscheinlich. Eine absolute Mehrheit kann Labour nur noch durch Zauberei oder Wahlbetrug erreichen. Die Konservativen und die Liberalen haben bereits ausgeschlossen, Brown bei einer Minderheitsregierung zu unterstützen. Von Wundern abgesehen, kommen eigentlich nur drei Szenarien in Frage:

• Eine Konservative Regierung mit absoluter Mehrheit: Um die Regierung allein zu bilden, müssten die Tories 326 Sitze im Unterhaus gewinnen. Nach den jüngsten Umfragen verpassen sie diese Mehrheit knapp. Tory-Chef Cameron baut jedoch weiterhin auf die Angst der Briten vor einem „hung parliament“. Letztlich werde die Vernunft bei den Wählern siegen und damit dann auch die Konservativen, verkündigt er gebetsmühlenartig.

• Eine Konservative Regierung ohne absoluter Mehrheit: Diese Variante erscheint nach den aktuellen Umfrageergebnissen am wahrscheinlichsten. Demnach ziehe die Tories zwar als stärkste Kraft ins Parlament ein, verpassen aber eine klare Mehrheit. Die Liberal Democrats würden damit zum Königsmacher. Liberalen-Chef Nick Clegg hatte eine Reform des Wahlsystems lange als Bedingung gestellt, um eine Minderheitsregierung zu stützen oder eine Koalition zu bilden. Cameron wiederum machte klar, eine Wahlreform sei mit ihm nicht zu machen. Am Montag nun lenkte Clegg ein, notfalls auch ohne Reform mit den Konservativen zu kooperieren.

• Eine Labour Regierung ohne absolute Mehrheit: Zwar wird Labour wohl weniger Stimmen als die Konservativen bekommen, die Liberalen könnten jedoch auch Labour zur Mehrheit verhelfen. Inhaltlich finden sich die Liberalen im Labour-Programm eher wieder als bei dem der Tories. Dem Modell würde Clegg aber wohl nur zustimmen, wenn Brown zurücktritt.

Egal wie die Wahl ausgeht, den Verlierern winkt ein Trostpreis – zumindest wenn man Mervyn King Glauben schenkt. Der Chef der Bank of England hatte kürzlich gesagt, die nächste Regierungspartei müsse einen hohen Preis für ihren Sieg zahlen. Die Wähler würden der künftigen Regierung die nötigen Finanzreformen übel nehmen. Wer immer heute gewänne, sei danach eine Generation lang unwählbar.

Quelle: Welt Online