Die erste Röhre der Gaspipeline liegt seit Dienstagabend auf dem Grund der Ostsee. Das gigantische Bauprojekt ist eine Machtdemonstration Russlands, soll Staaten wie die Ukraine zähmen helfen. Doch für Gazprom ist es auch eine riskante Wette – das Lieblingsprojekt von Altkanzler Schröder gilt als unwirtschaftlich.

Der Anfang wurde in der Mitte gemacht. Vor der schwedischen Insel Gotland, quasi auf halber Strecke, ließ das Spezialschiff „Castoro 6“ am Dienstagabend eine zwölf Meter lange und 24 Tonnen schwere Röhre in die Ostsee gleiten. Ihr werden noch 200.000 Rohre folgen, jedes mit 15.000 Euro so teuer wie ein Kleinwagen. Sie werden am Meeresgrund verschweißt, bis sie eine 1224 Kilometer lange Erdgaspipeline bilden: Russlands Rohr zum Westen. Zur Heizsaison 2011 soll das erste Gas fließen. Insgesamt geht es mit 55 Milliarden Kubikmetern um eine Transportmenge, die mehr als die Hälfte des deutschen Verbrauchs decken könnte.

Für Gazprom, den Rohstoffgiganten des Kreml, ist der Baustart eine Machtdemonstration. Endlich hat man eine Direktverbindung für den Gasexport und muss sich nicht mehr mit unliebsamen Nachbarn beim Transit herumärgern. So wird beim Festakt an diesem Freitag in der russischen Grenzstadt Wyborg auch Präsident Dmitri Medwedjew anwesend sein.

Eines steht schon jetzt fest: Die Ostseepipeline „Nord Stream“, auch wenn sie mit einem Jahr Verspätung startet, hat Auswirkungen auf das System der Gasversorgung in Europa. Und damit auf das komplizierte Beziehungsgeflecht der Energiewirtschaft zwischen Verbrauchern, Versorgern, Transitstaaten und den Erdgasförderern. Es geht um Geopolitik – und es geht auch um die Frage, wie dicht Gazprom an den deutschen Herd rückt.

Dmitri Absalow, Gasexperte des Moskauer Zentrums für Politische Konjunktur, bezeichnet die Ostseepipeline als eine „Energiebrücke“. Sie gewichte die Interessen von Lieferanten und Verbrauchern gleich. Dass Nord Stream zur Energiesicherheit beiträgt, wird auch von Michail Kortschemkin, Direktor des Beratungsinstituts East European Gas Analysis, nicht bezweifelt. Er fragt indes, ob das Milliardenvorhaben nur Gewinner hat. „Das Projekt macht für alle Beteiligten Sinn“, sagt Kortschemkin. „Außer für Gazprom.“

In den Jahren des Wirtschaftsbooms hatte der Gaskonzern seinem Hauptabnehmer Europa noch die Bedingungen zu diktieren versucht. Mit der Wirtschaftskrise geriet Gazprom jedoch ins Hintertreffen. Der Absatz in Europa ging um ein Zehntel zurück. Weil Gazprom vorwiegend über langfristige Abnehmerverträge verkauft, sein Gas nur über Pipelines liefert und den Gaspreis nach wie vor an den Ölpreis bindet, kaufte Europa zuletzt vermehrt bei Alternativlieferanten zu. Norwegen und Katar etwa gewinnen Anteile in Europa, Gazprom verliert. Die Russen deckten in Deutschland im Vorjahr nur noch 32 Prozent des Gasverbrauchs. 2008 waren es noch 37 Prozent gewesen.

Die Ostseepipeline ist eine Wette auf hohe Gaspreise und deutlich steigende Absatzmengen in Europa. Und sie ist teuer: Ging Gazprom anfangs noch von fünf Milliarden Euro Baukosten aus, stehen nun 7,4 Milliarden Euro zu Buche. 27 europäische Banken haben 3,9 Milliarden Euro an Krediten zur Verfügung gestellt.

Der deutsche Steuerzahler sichert über staatliche Bürgschaften zusammen mit dem italienischen Kreditversicherer Sace 3,1 Milliarden Euro ab. Schließlich ist Nord Stream zu einem Gutteil eine deutsche Pipeline: E.on Ruhrgas und die BASF-Tochter Wintershall halten je 15,5 Prozent an der Betreibergesellschaft „Nord Stream AG“. Mit von der Partie sind die niederländische Gasunie und bald die französische GDF Suez. Mehrheitsaktionär bei dem 2006 gegründeten Unternehmen mit Sitz im schweizerischen Zug ist Gazprom.

Deutschlands Engagement beschränkt sich nicht nur auf die Anteilseigner. Der Röhrenhersteller Europipe aus Mülheim an der Ruhr heimste einen Großauftrag über 1,2 Milliarden Euro ein. Und auch dort, wo die Reise des Gases startet, sind die Deutschen aktiv. Juschno-Russkoje nennt sich das Erdgasfeld in Nordsibirien, an dem E.on Ruhrgas und Wintershall mit je 25 Prozent minus einer Aktie beteiligt sind. Die Mehrheit gehört auch hier Gazprom. Juschno-Russkoje soll eine der Tankstellen für die Ostseepipeline sein.

Dass diese gebaut wird, obwohl skandinavische Umweltschützer sowie baltische und polnische Politiker jahrelang dagegen waren, können sich drei Männer zugute halten: Matthias Warnig, Wladimir Putin und Gerhard Schröder. Warnig, früher Banker, davor für die Stasi aktiv, hält bei Nord Stream als Geschäftsführer die Fäden in der Hand. Putin, jetzt Premier, davor Präsident, früher beim KGB, hat den Bau politisch befördert. Flankiert werden die beiden von Altkanzler Schröder, der dem Nord Stream-Aktionärsausschuss vorsitzt. Sein Engagement in Sachen Russengas sorgt bis heute für Diskussionen.

Dem Trio gelang es, die größten Sorgen zu zerstreuen. Auch, weil Nord Stream zahlreiche Konzessionen einging. So kam allein die Untersuchung des Meeresbodens teuer zu stehen. 150 Millionen Euro flossen Gazprom zufolge in Studien und Maßnahmen für den Umweltschutz.

Bedenken wollen die Betreiber zerstreuen. Sie zitieren aus einer Studie der Internationalen Energieagentur (IEA): Europa werde in Zukunft noch abhängiger vom russischen Erdgas. Der IEA zufolge verbrauchten die EU-Staaten 2007 526 Milliarden Kubikmeter Gas. Im Jahr 2030 sollen es 619 Milliarden Kubikmeter sein. Lag 2007 der Importanteil bei 59 Prozent, soll er bis 2030 auf 83 Prozent steigen. Und so will Gazprom seinen Marktanteil von derzeit 26 Prozent in Europa bis Ende der 20er-Jahre auf 33 Prozent steigern.

Gasexperte Kortschemkin hält mit einer einfachen Rechnung dagegen. Selbst wenn die russische Exportmenge von aktuell unter 150 Milliarden Kubikmetern um ein Drittel steigen sollte, bräuchte man keine neuen Exportrouten. „Schon die derzeitigen Transportkapazitäten nach Europa betragen 200 Milliarden Kubikmeter. Und mit Nord Stream kommen weitere 55 Milliarden Kubikmeter hinzu.“ Wird die Röhre also leer bleiben? Mit Sicherheit nicht, meint Kortschemkin. Notfalls werde man Erdgas, das auf dem Landweg durch die Ukraine fließt, einfach umleiten. „Die Ostseepipeline wird nicht gebraucht. Sie ist ein politisches Projekt.“

Die Politik spielt im russischen Gasexport schon bisher eine große Rolle. Seit der Nachbarstaat Ukraine nach der Orangenen Revolution politisch von Moskau wegdriftete, begann der Ärger auch beim Gashandel. Wiederholt kam es zu Lieferengpässen in Westeuropa, das 80 Prozent des Gases über den ukrainischen Transit bezieht. Gazprom stand plötzlich im Ruf, ein unsicherer Kantonist zu sein. Umso wichtiger wurden Alternativrouten beim Energieexport für den Kreml.

Nord Stream sei nicht nur politisch motiviert, sondern auch wirtschaftlich, sagt Erdgasexperte Dmitri Absalow. „Gazproms Abhängigkeit von den Transitländern ist zu groß. Der Konzern muss seine Transportrisiken verringern und daher auf verschiedene Routen setzen.“ Außerdem sei das ukrainische Transit-Pipelinenetz abgenutzt und benötige Milliarden-Investitionen.

Die EU hingegen, verängstigt durch die Konflikte, will mit Alternativ-Pipelines die Abhängigkeit von russischem Gas verringern. Was Schröder für Nord Stream bedeutet, ist sein einstiger politischer Weggefährte Joschka Fischer für das Pipelineprojekt Nabucco. Der frühere Außenminister soll im Auftrag der Energiekonzerne OMV und RWE diese Pipeline vom kaspischen Raum nach Europa vorantreiben – an Russland vorbei. Allerdings fehlt dem Acht-Milliarden-Euro-Projekt das Gas. Die potenziellen Quellen Turkmenistan, Aserbaidschan und Iran liegen in einer geopolitisch heiklen Region. Deshalb mutet Fischers Aufgabe komplizierter an als Schröders Job, wenngleich es ihm an Unterstützung aus Brüssel nicht mangelt. Der neue EU-Energiekommissar Günther Oettinger meint, Nabucco bringe für die EU den „höchsten Mehrwert“ und sei „besonders förderungswürdig“. Vorerst will die EU 200 Millionen Euro bereitstellen.

Doch auch im Süden lässt Russland nicht locker. Die Antwort auf Nabucco heißt „South Stream“. Gazprom konzipierte diese Route, um russisches Erdgas nach Südeuropa zu bringen – und um Nabucco überflüssig zu machen. Inzwischen werden die Kosten allerdings auf bis zu 25 Milliarden Euro geschätzt. Auch wenn Gazprom auf seiner Website noch stolz die Nord- und die Südroute als Vorzugsprojekte führt: Experten bezweifeln inzwischen, dass es dem Konzern gelingt, Europa in die Zange zu nehmen und über gleich zwei neue Kanäle zu versorgen.

Es ist also gut möglich, dass es bei der Ostseepipeline bleibt. Sie jedoch wird als Pionierleistung in die Geschichte eingehen. Schließlich ist sie die erste direkte Gasleitung zwischen Russland und Deutschland. Gerhard Schröder und Wladimir Putin haben es geschafft.

Quelle: Welt Online