Der neue Notenbankpräsident Mario Draghi fürchtet eine Rezession im Euro-Raum - und treibt die Aktienkurse hoch
Frankfurt. Im Kampf gegen die Schuldenkrise und eine drohende Rezession hat die EZB den Leitzins überraschend gesenkt - zum ersten Mal seit zweieinhalb Jahren. Auf der ersten Ratssitzung unter dem neuen Präsidenten Mario Draghi kappte die Europäische Zentralbank (EZB) das Zinsniveau gestern von 1,50 auf 1,25 Prozent.
Der Deutsche Aktienindex (DAX) baute seine Gewinne nach dem Paukenschlag aus dem Frankfurter EZB-Tower zunächst aus und lag um bis zu 3,8 Prozent im Plus, der Euro gab hingegen nach. Der neue "Mr. Euro" machte nach der Zinsentscheidung deutlich, dass die Sorge vor einem Abgleiten der Euro-Zone in eine Rezession im Sog der Schuldenkrise die Währungshüter umtreibt: "Der wirtschaftliche Ausblick bleibt unsicher, die Abwärtsrisiken haben sich intensiviert." Zugleich sei es "sehr wahrscheinlich", dass die Wachstumserwartungen für 2012 heruntergeschraubt werden müssten.
Die meisten Fachleute hatten erst für Dezember mit einer Zinswende gerechnet, obwohl bereits im Oktober auf der letzten Ratssitzung unter Präsident Jean-Claude Trichet darüber offen debattiert wurde. Viele EZB-Beobachter wunderten sich darüber, dass der Italiener Draghi schon bei seiner Premiere als Chef der Zentralbank die Zinssenkung in Szene setzte: "Der Schritt zeigt, wie beunruhigt die Währungshüter sind. Draghi nimmt dafür auch in Kauf, das Etikett einer Zinstaube angeheftet zu bekommen. Das unterstreicht den Ernst der Lage", sagte Commerzbank-Chefökonom Jörg Krämer.
Nun wird bereits über eine weitere EZB-Zinssenkung zum Jahresende spekuliert: "Ich hatte für Ende des Jahres einen Leitzins von einem Prozent auf der Rechnung, und natürlich bleibe ich dabei", sagt Ökonom Jürgen Michels von der Citibank.
Kritisch zeigte sich Postbank-Chefvolkswirt Marco Bargel: "Mit der heutigen Entscheidung und vor allem mit ihrer Begründung hat die EZB ihrer stabilitätspolitischen Glaubwürdigkeit unseres Erachtens einen Bärendienst erwiesen." Denn die Inflation sei im Euro-Raum zuletzt wieder gestiegen, auf immerhin drei Prozent. Draghi geht jedoch nach eigenen Worten davon aus, dass die Teuerungsrate im Laufe des kommenden Jahres wieder unter die Marke von zwei Prozent absinkt.
Verbraucher können von der Entscheidung der EZB schon bald profitieren. Denn wenn der Leitzins sinkt, verbilligen sich tendenziell Kredite. Die Verbraucher können somit mehr kaufen, was sie nicht sofort aus eigener Tasche bezahlen können oder wollen, und Unternehmen können leichter investieren. Beides wiederum sollte die Konjunktur ankurbeln. Aktuell dürften niedrige Zinsen insbesondere hoch verschuldeten Staaten wie Griechenland, Portugal, Irland, Spanien oder Italien zugutekommen. In diesen Ländern bremsen derzeit Sparauflagen die Konjunktur. Sie können also zusätzliche Wachstumsimpulse gut gebrauchen.
Doch eine Zinssenkung birgt auch Risiken: Billiges Geld kann zu Inflation und zur Überhitzung der Wirtschaft führen. Die Volksbanken und Raiffeisenbanken mahnen denn auch prompt, die EZB müsse die Entwicklung der Verbraucherpreise im Euro-Raum sehr sorgfältig beobachten.