Der europäische Arbeitsmarkt funktioniert längst nicht so, wie er müsste - Migration könnte viele ökonomische Probleme in der EU lindern.
Hamburg. Ortswechsel waren für Simon Davis, 28, nie ein Problem. Schon als Kind zog der Brite mit seinen Eltern häufig um, lebte unter anderem in Spanien. Vor acht Monaten kam Davis von London in die Hansestadt, nachdem er eine Stelle bei Bigpoint angenommen hatte, dem Hamburger Systemhaus für Onlinespiele. Dort leitet er eine Abteilung mit 28 Mitarbeitern, die das Spiel "Dark Orbit" weiterentwickeln, eines der wichtigsten Produkte des rasch wachsenden Unternehmens. "Ich hatte auch Angebote aus Großbritannien und Spanien", sagt Davis.
Für Bigpoint entschied er sich, weil das Unternehmen mit seinen mittlerweile rund 800 Mitarbeitern - davon 600 in Hamburg - als einer der kreativsten Treiber dieses noch jungen Wirtschaftszweiges gilt. "Mobilität ist in der Branche völlig normal", sagt der studierte Musiker und frühere Musiklehrer, der sich heute mit Fantasiewelten in den Tiefen des Alls beschäftigt. Das tut er seit Anfang Juni in einem denkmalgeschützten ehemaligen Postgebäude an der Drehbahn. Dorthin zog Bigpoint im Juni um. Das Unternehmen, 2002 gegründet, braucht Platz.
Für Bigpoint arbeitet seit dem 1. Mai auch Joanna Krzeminska, 23, aus Malbork im Norden Polens. In ihrer Heimatstadt hatte sie als Freiwillige die Fans der Bigpoint-Spiele beraten und unterstützt. Nun kümmert sie sich von Hamburg aus um die polnischen Nutzer des Unternehmens. Ihre Arbeit bei Bigpoint begann sie am selben Tag, an dem die Freizügigkeit für alle Arbeitnehmer aus den ostdeutschen EU-Mitgliedsstaaten wirksam wurde - zuvor konnten osteuropäische EU-Bürger nur unter Einschränkungen in Deutschland arbeiten. "Hätte ich früher hier anfangen wollen", sagt Krzeminska, "hätte ich viel mehr bürokratische und rechtliche Probleme bekommen." Nun zählt sie zu einer Belegschaft, die 35 Nationalitäten umfasst.
Bigpoint steht für eine moderne, grenzenlose Arbeitswelt. Das Profil des Unternehmens allerdings deckt sich nur bedingt mit der schwächlichen Verfassung des Arbeitsmarktes in der Europäischen Union. Seit der Öffnung der Grenzen für Arbeitnehmer aus Osteuropa zum 1. Mai herrscht - mit wenigen Ausnahmen - praktisch völlige Freizügigkeit in der gesamten EU. Doch die Chancen dieses riesigen Marktes mit seinen rund 500 Millionen Einwohnern werden bislang kaum genutzt. "Die Mobilität der Arbeitnehmer in der EU ist nach wie vor sehr gering", sagt der Ökonom und Migrationsexperte Max Friedrich Steinhardt vom Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI). "Die Arbeitsmärkte in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten sind immer noch stark von nationalen Besonderheiten und Regeln geprägt."
Brauchbare aktuelle Daten über die Migration von Arbeitnehmern innerhalb Europas gibt es nicht. Die Meldedaten der Kommunen sind verzerrt, weil sie auch Rentner, Privatiers und Lebenskünstler jeder Art umfassen, die von einem Land ins andere umziehen. Einhellig aber ist die Einschätzung von Experten, dass die Öffnung Europas keinen Boom bei den beruflich motivierten Wanderungsbewegungen ausgelöst hat. "Die Dimensionen sind viel kleiner, als man erwarten würde", sagt Hilmar Schneider, Direktor für Arbeitsmarktpolitik am Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn. Auch die Einwanderungswelle osteuropäischer Billiglöhner nach dem 1. Mai, deren vermeintliche Schrecken Gewerkschaften und manche Politiker beschworen hatten, fiel aus. "In der stetig wachsenden polnischen Wirtschaft haben auch Geringqualifizierte mittlerweile bessere Perspektiven als früher", sagt Schneider. "Umzuziehen und für fünf Euro in der Stunde in Deutschland zu putzen, lohnt sich nicht mehr unbedingt."
Der Arbeitsmarkt zeigt die wirtschaftliche Zerrissenheit innerhalb der Europäischen Union besonders deutlich. Gemäß den - für die einzelnen Länder angeglichenen - Daten der EU-Statistikbehörde Eurostat weist Deutschland eine Arbeitslosenquote von sechs Prozent aus, Griechenland von 15 und Spanien von 20,9 Prozent. Nicht nur Stärke und Schwäche der einzelnen Volkswirtschaften drücken diese Zahlen aus, sondern auch die Rückständigkeit der Arbeitswelt gegenüber anderen Teilmärkten. Das Finanzkapital bahnte sich seinen Weg durch Europa lange vor dem Fall der innereuropäischen Grenzen. Warenströme und Unternehmen mit ihren Produktionsstätten folgten mit der Entwicklung der EU.
Arbeitnehmer aber erweisen sich als wenig flexibel. Tragisch erscheint das auch deshalb, weil in den wirtschaftlich angeschlagenen Südländern vor allem der Anteil der jungen Arbeitslosen besonders hoch ist. Bei den anhaltenden Protesten in Athen, Madrid oder Lissabon zeigen vor allem sie ihre Wut über fehlende Perspektiven - dabei sollte das neue Europa doch gerade der Generation der heute jungen Erwachsenen neue Chancen bieten.
Ein wirtschaftlich schwacher Süden und ein starker Norden - diese Kombination führte vor 50 Jahren zu einer massenhaften Wanderungsbewegung am europäischen Arbeitsmarkt, und dies zu einer Zeit, als die Grenzen innerhalb Europas weit weniger durchlässig waren als heute. Deutsche Unternehmen und Arbeitsämter warben in Italien und Griechenland, Spanien und Portugal Arbeiter für die boomende deutsche Wirtschaft an, für die Industrie, den Bergbau und auch für Dienstleistungen wie die Müllabfuhr, für deren Erbringung sich schon damals nicht genügend deutsche Arbeitskräfte fanden. Im September 1964 wurde in Köln der Portugiese Armando Rodrigues de Sá als millionster "Gastarbeiter" mit großem Medienrummel und einem Moped geehrt. Viele dieser Ausländer blieben in Deutschland und legten damit hierzulande ein wichtiges Fundament für die Öffnung Europas.
+++ Kommentar: Wenn Arbeit nur ein Faktor bleibt +++
Bis heute sind die Scouts der deutschen Wirtschaft in der EU auf der Suche nach Talenten und Nachwuchskräften für die Unternehmen. "Die Bereitschaft der Arbeitgeber, mit uns zu Jobbörsen ins Ausland zu gehen, nimmt zu. Das spricht für wachsenden Mangel am heimischen Arbeitsmarkt", sagt Beate Raabe, Sprecherin der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) in Bonn, die das Auslandsgeschäft der Bundesagentur für Arbeit betreibt. Doch das Geschäft habe sich verändert: "Heutzutage werden sehr stark spezialisierte Fachkräfte gesucht - das ist ein entscheidender Unterschied zur Anwerbungswelle der sogenannten Gastarbeiter in den 60er-Jahren."
Werbung für Deutschland macht auch Walther von Plettenberg, Geschäftsführer der Auslandshandelskammer in Spanien. Zuletzt im Juni bot die Organisation in Madrid und Barcelona Jobseminare für Spanier an, die Interesse an einer Arbeit in Deutschland haben. Mehrere Hundert Teilnehmer kamen. "Das Potenzial für Bewegung und Austausch am europäischen Arbeitsmarkt ist sicher sehr viel höher als das, was bislang geschieht", sagt von Plettenberg. "Es gibt aber Ängste davor, das eigene Land zu verlassen. Von 2008 bis 2011 hat die Anzahl an Spaniern in Deutschland um weniger als 5000 zugenommen. Das ist sehr wenig und in keiner Weise vergleichbar mit der Situation in den 60er-Jahren."
Eine wesentliche Hürde gerade für Südeuropäer sei die Sprache, sagt von Plettenberg. In Südeuropa sei Deutsch in der Regel nicht erste oder zweite Fremdsprache. Die Motivation, es zu lernen, müsse gefördert werden, auch von den Unternehmen, die Mitarbeiter aus anderen Ländern wollten.
Doch nicht nur die Sprache hemme einen stärkeren Austausch in Europa, weiß von Plettenberg: "Die hohe Arbeitslosigkeit in Spanien betrifft vor allem die geringer Qualifizierten. Hoch qualifizierte Fachkräfte wie etwa Ingenieure werden dort ebenso dringend gesucht wie in Deutschland."
Gleichwohl habe Deutschland riesige Chancen am europäischen Arbeitsmarkt vertan, sagt Stefan Hardege vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) in Berlin: "Man hat die Zuwanderung, aber auch die Werbung für den Standort Deutschland jahrelang vernachlässigt. Es war ein Fehler, den Zuzug von Arbeitnehmern aus Osteuropa nach Deutschland so lange wie möglich zu blockieren. Etliche gut qualifizierte Arbeitnehmer aus osteuropäischen EU-Staaten", sagt Hardege, "leben mittlerweile vor allem in Großbritannien oder auch in Skandinavien."
So gesehen ist das Unternehmen Bigpoint in Hamburg dem deutschen Arbeitsmarkt wohl um einiges voraus.