Ministerpräsident Papandreou: Existenz der Nation hängt vom Sparwillen der Bürger ab
Brüssel/Hamburg. Zeugnistag in der Europäischen Union: Die EU-Kommission legte gestern ihre Bewertung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik der 27 Mitgliedstaaten vor. Das Urteil über Griechenland fiel vernichtend aus, auch Deutschland wird überraschend deutlich kritisiert. Die meisten EU-Länder müssten mehr sparen und stärkere Reformanstrengungen unternehmen, sagte EU-Kommissionschef José Manuel Barroso. Dabei dürfe das Wirtschaftswachstum nicht abgewürgt werden. "Wir sind an einem entscheidenden Punkt angelangt." Der Aufschwung gewinne an Fahrt, aber er bleibe ungleichmäßig verteilt in Europa.
Hart ging die Kommission mit den Versäumnissen des Schuldensünders Griechenland ins Gericht. Der fragile Bankensektor, gravierende Mängel im Statistiksystem, stark regulierte Arbeits- und Gütermärkte, hohe Lohnzuwächse und eine kurzsichtige Verschuldungspolitik - all dies hätte den Kollaps des Mittelmeerlandes verursacht.
In Athen rief Regierungschef Giorgos Papandreou die Bürger in einem dramatischen Appell zu gemeinsamen Anstrengungen zur Rettung des Landes auf. Die Existenz der griechischen Nation hänge von der Einwilligung aller Kräfte in die nötigen Reformen ab, sagte Papandreou. Gemeint ist damit das 78 Milliarden schwere Sparprogramm, das bis 2015 laufen soll. Die Sparmaßnahmen gelten als Voraussetzung dafür, dass die EU und der Internationale Währungsfonds (IWF) grünes Licht für die Auszahlung der nächsten Tranche der Finanzhilfe über zwölf Milliarden Euro geben. Kommt das Geld nicht, ist Griechenland nach den Worten seines Finanzministers Giorgos Papakonstantinou bis Ende Juli pleite: "Dann können wir die Rollläden runtermachen."
Papandreou schloss nicht aus, die Griechen in einer Volksabstimmung zu den Reformen zu befragen. Am Montagabend hatten sich erneut Tausende von Menschen in Athen versammelt, um gegen den Sparkurs zu protestieren.
Auch der IWF dringt auf einen neuen Reformschub in Griechenland. Zwar habe das Land im vergangenen Jahr deutliche Anstrengungen unternommen, sagte IWF-Vertreter Bob Traa auf einer Bankenkonferenz. Seit Ende 2010 habe die Dynamik des Reformprozesses aber nachgelassen. Griechenland stehe nun am Scheideweg. "Jetzt ist nicht die Zeit, um nachzulassen", warnte Traa. Nachdem sich abzeichnet, dass Athen sich im Jahr 2012 noch nicht am Markt finanzieren kann, wird derzeit ein zweites Hilfspaket vorbereitet. Dafür sind Beträge zwischen 65 und mehr als 100 Milliarden Euro im Gespräch.
Mit solchen neuen Finanzhilfen würde Europa im Kampf gegen die Schuldenkrise zumindest Zeit gewinnen - "und das wäre nach unserer Einschätzung genau der richtige Weg", meint Berenberg-Chefvolkswirt Holger Schmieding. "Griechenland ist klein. Die Hauptsorge gilt einer möglichen Ansteckung viel größerer Volkswirtschaften wie etwa Spanien." Eine Einigung auf Hilfen für Griechenland würde Spanien mehr Luft verschaffen, aus eigener Kraft die Wende zu schaffen.
Nach bisherigen Planungen sollten die EU-Finanzminister am 20. Juni ein solches Paket verabschieden. Nach einem "Handelsblatt"-Bericht lässt sich dieser Zeitplan aber wohl nicht halten, weil es noch zu viele unbeantwortete Fragen zu dem Verfahren gebe.
Dazu gehört die sogenannte Beteiligung privater Investoren, die unter anderem von der Bundesregierung gefordert wurde: Banken, die griechische Staatsanleihen halten, sollen zumindest länger auf die Rückzahlung ihrer Forderungen warten müssen. "Es geht darum, die privaten Anleger zu einer gewissen Freiwilligkeit zu zwingen", sagte Carsten Klude, Chefvolkswirt des Privatbankhauses M.M. Warburg. "Aber ich sehe das noch nicht kommen, es sind zu viele Probleme damit verbunden." So hatte die Ratingagentur Moody's signalisiert, man würde auch eine Verlängerung der Anleihelaufzeiten als Kreditausfall werten.
Abgesehen von der Kritik an Griechenland hatte die EU-Kommission in ihrem Bericht aber auch für Deutschland nicht nur lobende Worte. Zahlreiche Hausaufgaben müssten zügig erledigt werden. "Die Krise offenbarte eine ernsthafte Anfälligkeit des Bankensektors", schreiben die Experten. Die Kapitalausstattung vieler Banken sei unzureichend, insbesondere das System der Landesbanken müsse endlich grundlegend reformiert werden.
Zudem müsse die Effizienz der Gesundheitsausgaben steigen. Außerdem fordert die EU-Kommission Berlin auf, Frauen, Ältere und Geringqualifizierte besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das Arbeitskräftepotenzial müsse angesichts der demografischen Entwicklung besser ausgeschöpft werden.
Unterdessen kommt Kroatien dem Ziel eines Beitritts zur EU immer näher. Die Kommission wird voraussichtlich am Freitag empfehlen, die Verhandlungen mit Zagreb nach sechs Jahren Dauer abzuschließen, sagten EU-Diplomaten in Brüssel. Damit wäre ein Beitritt Kroatiens zum Juli 2013 denkbar.