IZA-Direktor Klaus Zimmermann erwartet jährlich 150 000 Zuwanderer aus Osteuropa - aber keinen Massenansturm

Hamburg. Zum 1. Mai öffnen Deutschland und Österreich als letzte EU-Staaten den Arbeitsmarkt für Bürger aus Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen. Über Chancen und Risiken sprach das Abendblatt mit dem Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), Klaus Zimmermann.

Hamburger Abendblatt:

Müssen wir im Mai mit Wartezeiten an der polnisch-deutsche Grenze rechnen?

Klaus Zimmermann:

Warum?

Weil dann Tausende Osteuropäer ihr neues Glück in Deutschland suchen.

Zimmermann:

Nein, diese Vorstellung ist überzeichnet. Richtig ist, dass es ein sehr großes Interesse der osteuropäischen EU-Beitrittsländer für die neue Arbeitnehmerfreizügigkeit gibt, weil es als Zeichen der Anerkennung, des Respekts und der Integration in Europa wahrgenommen wird. Die Neuregelung wird aber keine große Migrationswelle nach Deutschland in Gang setzen.

Wie viele Menschen erwarten Sie in diesem Jahr?

Zimmermann:

In diesem Jahr schätze ich die Zahl der Arbeitszuwanderer auf etwa 150 000. Allerdings muss man wissen, dass aus Polen schon bislang jedes Jahr durchschnittlich etwa 50 000 Menschen legal nach Deutschland zum Arbeiten kommen. Auf Dauer dürfte die Zahl der Zuwanderer eher wieder abnehmen, da viele Osteuropäer andere Länder wie Großbritannien, Irland, Schweden oder die USA bevorzugen.

Ist Arbeitnehmerfreizügigkeit eher eine Chance oder Gefahr für Deutschland?

Zimmermann:

Flexible Arbeitsmärkte sind immer eine Chance. Mängel am Arbeitsmarkt können durch höhere, grenzüberschreitende Beweglichkeit besser ausgeglichen werden. Die EU verfolgt mit der neuen Freizügigkeit die Grundidee, dass ein einheitlicher Wirtschaftsraum allen Wohlstand und Beschäftigung bringen soll.

Konkret zu den Chancen. Inwieweit kann die neue Regelung dem Fachkräftemangel entgegenwirken?

Zimmermann:

In Deutschland gibt es derzeit in der Alten- und Krankenpflege, bei haushaltsnahen Dienstleistungen, im Handwerk sowie bei hoch qualifizierten Ingenieuren einen großen Bedarf an Arbeitskräften. Bei Pflegekräften werden neben Fachpersonal auch angelernte Kräfte gesucht, die bereit sind, ältere oder kranke Menschen zu betreuen - und zwar zu Bedingungen, unter denen Deutsche derzeit offenbar nicht bereit sind zu arbeiten. In diesem Bereich dürfte Deutschland zahlreiche Zuwanderer bekommen. Die Hochqualifizierten werden ihr Glück dagegen wohl weiterhin eher in England oder Übersee suchen.

Woran liegt es, dass Deutschland für viele Hochqualifizierte bisher nicht so attraktiv ist?

Zimmermann:

Im Gegensatz zu anderen Ländern öffnen Deutschland und Österreich erst jetzt ihren Arbeitsmarkt. Wir haben bislang kein internationales Signal ausgesendet, dass Arbeitskräfte aus dem Osten hierzulande willkommen sind. Es fehlte an offensiven Zeichen der Gastfreundschaft. Diese zögerliche Haltung aus Angst vor vermeintlichen Belastungen des Arbeitsmarktes erweist sich jetzt als großer Fehler. So kann es passieren, dass künftig gut ausgebildete Deutsche und Migranten ins Ausland abwandern, während nur wenige nach Deutschland kommen. Schon heute ist Deutschland ein Auswanderungsland.

Gefährdet Deutschland ohne Zuwanderung seinen Wohlstand?

Zimmermann:

Mittelfristig braucht Deutschland rund 500 000 Zuwanderer im Jahr, um seinen Wohlstand zu halten. Die Entwicklung des Arbeitsmarkts zeigt schon heute deutlich, dass uns zunehmend die Arbeitskräfte ausgehen. Die Arbeitslosigkeit nimmt stetig ab, was zwar schön ist. Andererseits stößt die Industrie in manchen Bereichen schon in zwei Jahren an die Grenze ihrer Produktionsmöglichkeiten, da wie im Maschinenbau Mitarbeiter fehlen. Ohne mehr Arbeitskräfte gerät das weitere Wirtschaftswachstum in Gefahr. Im Bereich der Elektrotechnik und Elektronikindustrie beklagen zum Beispiel Firmen, dass manche Aufträge teilweise schon jetzt nicht mehr rechtzeitig ausgeführt werden können. Die kommunalen Krankenhäuser in Bremen zahlen ihren Mitarbeitern schon heute eine Prämie in Höhe von 1000 Euro, wenn diese erfolgreich einen Pfleger oder eine Pflegerin anwerben.

Was muss Deutschland unternehmen, damit es attraktiv für Osteuropäer wird?

Zimmermann:

Deutsche Unternehmen sollten in Osteuropa Informations- und Servicestellen schaffen, die Auswanderungswillige beraten, aber auch Auszubildende oder Studenten für Deutschland anwerben. Zudem muss das Zuwanderungsgesetz geändert und präzisiert werden. Anhand eines Punktesystems sollte bestimmt werden, unter welchen Bedingungen eine Einwanderung nach Deutschland möglich ist. Dieses muss international zugänglich sein, so wie dies die USA, Kanada oder Australien praktizieren.

Nach den Chancen nun zu den Gefahren. Gewerkschaften befürchten durch die neue Freizügigkeit Lohndumping.

Zimmermann:

Die Gefahr des Lohndumpings hängt stark von der Branche ab. Gesuchte Fachkräfte werden in der Regel gut bezahlt. Allerdings könnte es passieren, dass die Lohnsteigerungen durch das größere Arbeitskräfteangebot etwas geringer ausfällt. Fachkräfte schaffen aber auch Arbeitsplätze, indem sie geringer qualifizierte Jobs nach sich ziehen. Allenfalls dort, wo die Arbeitslosigkeit oder der Wettbewerbsdruck sehr hoch ist, könnte es zu Lohndumping kommen - etwa im Bausektor, der Gebäudereinigerbranche oder in der Fleischindustrie.

Wäre die Einführung eines Mindestlohns sinnvoll?

Zimmermann:

Nein. Mindestlohn ist allenfalls in der Zeitarbeitsbranche sinnvoll, damit osteuropäische Arbeitskräfte nicht zu den oft niedrigeren Heimatlöhnen in Deutschland arbeiten können und damit eine Branche gefährden.

Droht den osteuropäischen Ländern ein Exodus an Fachkräften?

Zimmermann:

Viele europäische Länder praktizieren bereits seit 2004 die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Auch damals hat dies nicht zu Massenmigrationen geführt. Viele Osteuropäer nutzen die Jobs im Westen, um mehr Geld zu verdienen. Die Erfahrung zeigt zudem, dass viele polnische Arbeitsmigranten zum Beispiel ihre Ehepartner in der Heimat zurücklassen und an die Familie Geld transferieren. Viele kehren nach einigen Jahren auch wieder in ihr Heimatland zurück und bereichern mit ihrem Wissen die heimische Wirtschaft. Unterm Strich profitiert damit auch Osteuropa von dem Know-how-Transfer.