Für Migranten wird es einfacher, Arbeit in Deutschland zu finden. Polen und Tschechien rechnen nicht mit einer Massenauswanderung.

Warschau/Prag. Ab 1. Mai wird der deutsche Arbeitsmarkt uneingeschränkt für Migranten aus osteuropäischen Mitgliedstaaten geöffnet. Zuvor hatte Polen jahrelang für eine schnelle Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes gefordert. Heftig kritisiert das EU-Land, dass Deutschland die sogenannte Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus osteuropäischen Mitgliedstaaten nach deren EU-Beitritt zunächst aussetzte. Die letzten Schranken fallen nun und viele Menschen auf beiden Seiten der Grenze haben plötzlich ein mulmiges Gefühl. Denn wieviele Arbeitsmigranten aus Polen und anderen Ländern Mittel- und Osteuropas tatsächlich nach Deutschland kommen, weiß so richtig niemand.

Während deutsche Arbeitnehmer Billigkonkurrenz aus dem Osten fürchten, herrscht auf der polnischen Seite Angst vor der Abwanderung bester Köpfe in den Westen. Deutschland galt seit dem 19. Jahrhundert als Hauptziel polnischer Arbeitsmigranten, bis heute nennen Polen jede Saisonarbeit im Ausland "saksy“ (Sachsen).

"Die Regierungen haben keinen Einfluss auf die Migrationsströme“, gab Polens Arbeitsministerin Jolanta Fedak vor kurzem im Parlament zu. Angesichts vieler Fragezeichen bemühen sich Regierungsvertreter und Experten an der Weichsel aber, die Gemüter zu beruhigen. Eine Massenauswanderung ins westliche Nachbarland werde es nicht geben, lautet der offizielle Standpunkt. So rechnet das Arbeitsministerium in Warschau mit maximal 300.000 bis 400.000 Migranten in den nächsten drei Jahren.

"Die meisten Wirtschaftswissenschaftler teilen diese optimistische Einschätzung. Pawel Kaczmarczyk von der Warschauer Universität rechnet damit, dass die Zahl der polnischen Arbeitnehmer in Deutschland von derzeit 350.000 bis 400.000 auf maximal 600.000 wächst. Nur eine tiefe Wirtschaftskrise in Polen könne die Ausreisewelle wesentlich verstärken, sagt der Wissenschaftler, der auch Regierungschef Donald Tusk berät.

Die private Arbeitsagentur Work Express in Katowice (Kattowitz) beobachtet zwar bei ihren Kunden ein steigendes Interesse an einem Arbeitsplatz in Deutschland. "Wöchentlich gibt es rund hundert Nachfragen, doppelt so viele wie im vergangenen Jahr“, berichtet Artur Ragan. Doch er prophezeit, dass mancher Auswanderer in einigen Monaten aus Deutschland enttäuscht zurückkehren wird – nicht zuletzt mangels Sprachkenntnis.

Fachkräfte wählten sowieso eher die USA oder Großbritannien als Auswanderungsland, meint der Wirtschaftswissenschaftler Sebastian Plociennik von der Universität Breslau. Für Spitzenkräfte sei Deutschland nicht attraktiv genug.

In Tschechien ist das Interesse an einer Auswanderung nach Deutschland noch geringer. "Die meisten sind hier nicht sehr mobil“, sagt Bernard Bauer von der Deutsch-Tschechischen Industrie- und Handelskammer in Prag. Arbeitnehmer wechselten selbst innerhalb des Landes ungern von einer Stadt in die andere, die Lohnunterschiede zu Sachsen seien nicht sehr groß. Arbeitsminister Jaromir Drabek sagt: "Die meisten Leute, die in Deutschland arbeiten wollten, haben das bereits in die Tat umgesetzt.“

Tatsächlich gibt es bereits jetzt viele Möglichkeiten zur Arbeit in Deutschland. Seit zwei Jahrzehnten sind polnische Saisonarbeiter in der Landwirtschaft und entsandte Bauarbeiter an deutschen Baustellen tätig. Für IT-Spezialisten, Akademiker und Selbständige ist der deutsche Markt seit Jahren offen. "Alle, die kommen wollten, sind schon längst am Rhein“, sagt der Chef der polnischen Dienstleistungsbetriebe in Deutschland, Julian Korman. Er bisher illegal gearbeitet habe, werde nun seinen Status legalisieren.

Als eine der wenigen ihrer Zunft warnt Krystyna Iglicka vom Institut für Internationale Beziehungen (CSM) vor einer Ausreisewelle aus Polen. Sie verweist auf geografische Nähe, Lohngefälle und ein Netzwerk von Bekannten als Faktoren, die für eine Abwanderung nach Deutschland sprechen.

Polen hatte bereits nach dem EU-Beitritt 2004 einen empfindlichen Arbeitskräfteverlust erlebt. Damals waren zwei Millionen Polen vor allem nach Großbritannien und Irland gegangen – Länder, die als erste ihre Märkte für osteuropäische Arbeitskräften öffneten.

Von Jacek Lepiarz und Michael Heitmann