Die Allianz zwischen Siemens und Rosatom könnte platzen. Denn beim Münchener Konzern überdenkt man ganz grundsätzlich die Atom-Strategie.
Eine Unterschrift fehlte. Ausgerechnet Peter Löscher, Vorstandschef des größten deutschen Industriekonzerns Siemens, wollte seinen Namen nicht unter den „Energiepolitischen Appell“ setzen, in dem 40 Spitzenmanager aus der Wirtschaft wie Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann oder RWE-Vorstandsvorsitzender Jürgen Großmann der Atomkraft das Wort redeten. „Ein vorzeitiger Ausstieg würde Kapital in Milliardenhöhe vernichten – zulasten der Umwelt, der Volkswirtschaft und der Menschen in unserem Land“, stand in dem Aufruf vom vergangenen August. Löscher schien von der Idee, unter diesem Appell zu stehen, nichts zu halten.
Bei Siemens wertet man heute Löschers Weigerung als Indiz, wie er es tatsächlich schon damals mit der Atomenergie gehalten habe. Eine bemerkenswerte Interpretation. Schließlich hatte der 53-jährige Österreicher noch im März 2009 eine Absichtserklärung „Über die Bildung eines Gemeinschaftsunternehmens im Bereich der Kerntechnik“ unterzeichnet. Ausgerechnet mit dem russischen Staatskonzern Rosatom wollte er weltweit als Anbieter für den Bau von Atommeilern auftreten. Russland, Ukraine, Tschernobyl? Die Assoziationskette lag auf der Hand. „Wir sehen in dieser Vereinbarung große Chancen, unser Engagement im Kernenergiebereich mit einem starken und erfahrenen Partner auszuweiten“, sagte dennoch Löscher bei der feierlichen Zeremonie in Berlin. „Wir wollen mit Rosatom weltweit Ansprechpartner Nummer eins für den Bau neuer Reaktoren und für die Modernisierung bestehender Reaktoren werden.“
Siemens wollte zusammen mit den Russen an einem Wachstumsmarkt partizipieren und hätte sich sogar mit der Rolle des Minderheitsaktionärs zufrieden gegeben. Schließlich besagten von Löscher zitierte Studien, bis 2030 würden neue 400 Atomkraftwerke im Wert von 1000 Milliarden Euro gebaut. Und so viele Kraftwerksbauer tummeln sich dann auch nicht auf dem Markt: Areva, Rosatom, Toshiba-Westinghouse, Mitsubishi, General Electric.
Jedoch Fukushima hat auch die Siemens-Welt verändert. Inzwischen heißt es dort, dass man über ein Ende des Atomengagements nachdenke. „Natürlich prüft man Varianten für den weiteren Umgang mit der Atomenergie. Wir können uns ja vor den Realitäten nach Fukushima nicht verschließen. Die neue Lage müssen wir genau analysieren.“ Das deutsch-russische Gemeinschaftsunternehmen könnte damit, noch nicht einmal gegründet, schon Geschichte sein.
Grüner Gigant
Das Wettrennen um die verbliebenen Großaufträge, die von der Unterschrift bis zur schlüsselfertigen Übergabe oftmals länger als ein Jahrzehnt in Anspruch nehmen, könnte ohne Siemens stattfinden. Hat die Kernenergie noch eine Zukunft? „Das hängt nicht von Siemens ab, sondern von den weltweiten energiepolitischen Rahmenbedingungen“, sagt Löscher. Und die sind, nicht nur auf dem Heimatmarkt Deutschland, schlechter geworden. „Der Ausbau des Geschäfts mit erneuerbaren Energien, vielleicht auch durch Übernahmen, ist für Siemens sicherer – und wahrscheinlich auch besser für den Aktienkurs“, sagt Analyst Theo Kitz von Merck Finck & Co. „Das Potenzial für Kernenergie ist weltweit kleiner geworden.“ Auch wenn, so Kitz, manche Staaten ihr ehrgeiziges Atomprogramm durchziehen sollten und Siemens damit Umsätze erzielen könnte, spräche doch vieles für einen Ausstieg des Münchner Konzerns. „Atomenergie passt auch nicht unbedingt zu dem grünen Image, das sich Siemens verpasst hat. Das Unternehmen gibt sich als Vorreiter bei alternativen Energien, und darauf könnte es sich konzentrieren.“
Wie groß der Markt noch nach Fukushima ist, lässt sich kaum beziffern. Während ihn viele kollabieren sehen, geht die Beratungsfirma Arthur D. Little unbeirrt von einer „nuklearen Renaissance“ aus. 60 Blöcke seien aktuell im Bau, weitere 500 Blöcke seien in Planung. Das gesamte Marktpotenzial: 2,2 Billionen Euro. Realistisch sei für die deutschen Firmen ein „kumulierter Umsatz von heute bis 2030 von 42 Milliarden Euro“, heißt es in der Studie.
Doch will Siemens in diesem Geschäftsfeld wirklich noch mitmischen? Es gibt wenige Großkonzerne, die in den vergangenen Jahren sosehr ihren ökologischen Wandel unterstrichen haben wie das Traditionsunternehmen. Das ging sogar soweit, dass Löscher ein Faible für Krawatten in gedecktem Grün entwickelte. Siemens machte im abgelaufenen Geschäftsjahr 28 Milliarden Euro Umsatz mit „grünen Produkten“. Bis 2014 soll ihr Umsatz auf 40 Milliarden Euro nach oben schnellen. Doch was ist alles grün im Hause Siemens? Windkraftanlagen zählen zum Umweltportfolio genauso wie Züge, intelligente Stromnetze, effiziente Gas- und Dampfturbinen, Energiesparlampen und Leuchtdioden.
Löscher, seit 2007 im Amt und mit zwei Rekordjahren in Folge überaus erfolgreich, nennt Siemens gerne einen „grünen Infrastruktur-Pionier“. Das Thema Umwelt wird auch im Zentrum eines neuen Sektors stehen, der neben den drei Siemens-Säulen „Industrie“, „Energie“ und „Gesundheit“ entstehen soll: „Infrastruktur & Städte“. Städte, die ihre Umweltsituation dringend verbessern müssen, gelten als Kunden der Zukunft.
Der Konzern will so mittelfristig seinen Umsatz um ein Drittel auf 100 Milliarden Euro steigern. Da scheint bei Siemens die Atomenergie nicht mehr zum Konzept zu passen. Was waren das noch für Zeiten, als Siemens fleißig Kernkraftwerke baute! Der langjährige Chef Heinrich von Pierer erinnert sich denn auch in seinen Memoiren „Gipfel-Stürme“ launig an Verhandlungen mit Geschäftspartnern in Iran, wankelmütige Kunden in der Türkei und an trunkene Treffen in China.
Mit der Kraftwerk Union (KWU), 1988 bei Siemens eingegliedert, wurden die Münchner zu einem starken Spieler. Milliardenaufträge kamen herein. Doch das Atomgeschäft verlor in den Folgejahren an Bedeutung. Auch deshalb ging Siemens 2001 mit der französischen Konkurrenz ein Gemeinschaftsunternehmen ein, das heute Areva NP heißt. Nach dem Ausstieg aus dem sogenannten heißen Teil, also der Reaktortechnik, hat sich Siemens auf Turbinen, auf Leit- und Sicherheitstechnik spezialisiert. Bei Areva NP sind weltweit 18.000 Mitarbeiter weltweit beschäftigt, darunter 5300 in Deutschland.
Immer Ärger mit dem Partner
Der französische Seniorpartner, der Staatskonzern Areva, gilt als eines der führenden Unternehmen der Atombranche. Areva-Chefin Anne Lauvergeon, in der Branche als „Atomic Anne“ bekannt, glaubt trotz Fukushima weiter an die Zukunft der Kernkraft. Von den Gesichtspunkten „Energiesicherheit, Umweltschutz und Wirtschaftlichkeit“ sei sie eine „überlegene Quelle für Elektrizität“. Für Areva ist die Lage nicht einfach. Noch vor der Katastrophe hatten Länder wie Großbritannien, Indien oder die USA Interesse an dem gemeinsam mit Siemens entwickelten Europäischen Druckwasserreaktor EPR bekundet. Verträge wurden jedoch bislang nicht unterzeichnet. Selbst die französische Atomaufsicht erklärte gerade, der Bau des ersten französischen EPRs in der Normandie könnte gestoppt werden, um die Sicherheitsvorkehrungen anzupassen.
Siemens ist mit der Kooperation mit den Franzosen unglücklich. Als Juniorpartner halten die Deutschen an Areva NP 34 Prozent. Seit alle Versuche gescheitert sind, die Mehrheit zu übernehmen, will man raus aus der Allianz – zumal dies Voraussetzung für ein Zusammengehen mit den Russen ist. Doch der 2009 verkündete Rückzug aus Areva NP ist noch immer nicht abgeschlossen. Beide Seiten werfen einander Vertragsbruch vor, das Pariser Schiedsgericht ICC soll nun die Schuldfrage klären.
Die ist relevant für die Bewertung des Siemens-Anteils. Ein Gutachter hat das Aktienpaket von 34 Prozent kürzlich auf 1,62 Milliarden Euro taxiert. Doch auf die Summe könnten bis zu 40 Prozent aufgeschlagen oder von ihr abgezogen werden, je nachdem, ob der Richter Siemens Recht gibt oder nicht. Siemens könnte also bestenfalls 2,3 Mrd. Euro, im schlechtesten Fall knapp eine Milliarde Euro erhalten. Vermutlich werden die Richter bereits in den kommenden Wochen entscheiden. Nicht weniger umstritten ist die Frage, ob Siemens mit dem Ausstieg aus Areva NP acht Jahre lang vom Geschäft mit der Nukleartechnik ausgeschlossen wird. Mit der Prüfung des Falls sind die Kartellwächter der EU befasst.
Russische Option
Bei Rosatom im fernen Moskau beobachtet man die mögliche Kehrtwende bei Siemens sehr genau. „Das Vorankommen bei der Allianz mit Siemens können wir nicht kommentieren, solange die Prüfung der Causa Areva vor dem Schiedsgericht nicht gelöst ist“, sagt Rosatom-Sprecher Sergej Novikov. Doch hinter den Kulissen wird darüber debattiert, inwieweit Siemens noch eine sichere Bank ist. Rosatom hatte bis vor kurzem noch grandiose Pläne, die allerdings zusammengeschrumpft sind.
Zurzeit gibt es in Russland 32 Reaktoren, darunter elf vom Typ des Unglücksreaktors von Tschernobyl. Hatte die Strategie 2008 noch den Neubau von 32 Kraftwerksblöcken vorgesehen, ist nur noch von zwölf neuen Meilern bis 2020 die Rede. Es dürften vermutlich noch weniger werden. „Nicht aus ökologischen, sondern aus ökonomischen Gründen wird man weiter kürzen“, ist sich Wladimir Tschuprow, Atomexperte bei Greenpeace in Russland, sicher. Denn da das Wirtschaftswachstum weitaus geringer ausfällt als erwartet, steigt auch der Stromverbrauch langsamer an. „Ist das ambitionierte Programm zum Ausbau der Kernkraftwerke nötig oder nicht?“, fragte bereits Premier Wladimir Putin.
Er bezog das auf den Binnenmarkt. Doch sie hätte auch für den Weltmarkt Gültigkeit. Da sollte eigentlich Siemens Rosatom helfen, und das Gütesiegel „made in Germany“ sollte die Kunden überzeugen. Allzu viele Exportgüter hat die russische Wirtschaft – abgesehen von Rohstoffen – nicht. Da bleibt neben Waffen vor allem Nukleartechnik. Von „Aufträgen über Dutzende Milliarden von Euro im Laufe der kommenden ein, zwei Jahrzehnte“ träumte noch Energieminister Sergej Schmatko vor eineinhalb Jahren im Interview mit „Welt Online“. „Nach Japan stehen einige Aufträge infrage“, sagt heute Bulat Nigmatulin, ein ehemaliger Vize-Minister für Atomenergie und ausgewiesener Atomexperte.
Venezuela etwa hat abgesagt, die Ukraine hat ihre Ausbaupläne nach unten korrigiert, Kasachstan prüft nun schon seit geschlagenen 20 Jahren, Vietnam prüft. Immerhin, in Indien baut Russland derzeit zwei Atomkraftwerke zu Ende. Und mit Weißrussland und der Türkei sind – sogar nach der Japan-Katastrophe – Milliardenaufträge unterschrieben worden. Vor heiklen Aufgaben machte Rosatom in der Vergangenheit nicht halt, etwa vor der Fertigstellung des Atommeilers im iranischen Bushehr. Ironie der Geschichte, dass Siemens, als noch der Schah regierte, den Bau begonnen hatte.
Bei Rosatom hofft man trotz der Signale aus München weiter auf eine Kooperation. Mit Siemens bekäme man die gesamte Palette an erwünschtem Know-how, meint Atomexperte Nigmatulin. Und sollte es nicht mehr zum Bündnis mit den Deutschen kommen? Dann werde Rosatom wohl „situative Allianzen mit Areva – wie teilweise schon bisher – oder den Chinesen“ eingehen.
Löscher wird jedenfalls vorsichtig sein, um seine russischen Geschäftspartner nicht zu vergrätzen. Noch hat er einen exzellenten Zugang zu den Mächtigen. Siemens ist in Russland so erfolgreich wie kaum ein anderer Konzern und wird von Putin als Modernisierungspartner geschätzt. Das zahlt sich aus – etwa in Milliardenaufträgen der Eisenbahn.
Der Fall Finnland
Olkiluoto, so heißt eine Halbinsel in Finnland. So schön der Name, verursacht er bei Siemens regelmäßig schlechte Laune. Denn in Olkiluoto wird ein Atomkraftwerk mit 1600 Megawatt Leistung gebaut, das für mächtigen Ärger sorgt. Der Bau des sogenannten Europäischen Druckwasserreaktors hat sich um Jahre verzögert, die Kosten laufen aus dem Ruder. Areva/Siemens und der finnische Betreiber werfen sich gegenseitig vor, für das Desaster verantwortlich zu sein und fordern voneinander mehr als eine Milliarde Euro.
Olkiluoto-3 hat Siemens bereits eine dreistellige Millionensumme gekostet. Dieser Tage kündigte Finanzvorstand Joe Kaeser weitere Belastungen in Höhe von 50 bis 100 Millionen Euro an. Selbst wenn es auch nach Fukushima noch einen Milliardenmarkt für neue Nuklearreaktoren geben sollte: Olkiluoto-3 beweist, dass das Geschäft mit Atommeilern mit hohen finanziellen Risiken verbunden ist. Von der atomaren Sicherheit ganz zu schweigen.