Die Deutschen fürchten laut Umfrage steigende Abgaben und unsolide Staatsfinanzen. Ihre Forderungen schrauben sie trotzdem nicht zurück.

Die Deutschen haben Angst um die Zukunft des Sozialstaates. Eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung erwartet, dass die Steuer- und Sozialabgabenlast in den nächsten zehn Jahren zunimmt, das Leistungsniveau im Sozialsystem dagegen absinkt. Dabei erachten die meisten Bürger schon die heutigen Leistungen der Renten- und Pflegeversicherung für zu gering. Die Gesundheitsleistungen, Hartz IV und die Sozialhilfe für Menschen, die nicht erwerbsfähig sind, bewertet jeder Zweite als nicht ausreichend.

Dies sind noch unveröffentlichte Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage zur Zukunft der sozialen Marktwirtschaft, die das Meinungsforschungsinstitut Infas im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung durchgeführt hat. Das Stimmungsbild zeigt, dass die Deutschen sehr hohe Anforderungen an den Sozialstaat stellen. Der Staat müsse sicherstellen, dass derjenige, der sein Leben lang gearbeitet habe, im Alter seinen Lebensstandard halten könne, sagen 90 Prozent der Befragten.

Tatsächlich hat sich die Politik mit der Einführung der geförderten privaten Riester-Rente von diesem Ziel längst verabschiedet. Rund 70 Prozent der Bevölkerung fordern ein Recht auf bezahlte Arbeit, mit der der Lebensunterhalt bestritten werden kann – das geht weit über die Forderung nach gesetzlichen Mindestlöhnen hinaus. Und jeder Dritte fände es gar richtig, wenn Banken und Energieunternehmen vom Staat übernommen und geführt würden.

Große Sorgen bereitet den Bürgern die ausufernde Staatsverschuldung. Von dem Ziel solider öffentlicher Finanzen ist die real existierende soziale Marktwirtschaft Deutschland nach Einschätzung seiner Bürger weit entfernt. Auch bei den beiden für besonders wichtig erachteten Zielen – geringe Arbeitslosigkeit und Chancengleichheit im Bildungssystem – klafften Wunsch und Wirklichkeit auseinander, beklagt die Mehrheit.

Die Zukunftserwartung der Bevölkerung ist zweigeteilt: Eher pessimistisch wird die soziale Lage in zehn Jahren beurteilt, optimistischer ist man dagegen mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung. So rechnet die Mehrheit der Deutschen (63 Prozent) damit, dass die Einkommensunterschiede in zehn Jahren größer sein werden als heute. Jeder Zweite sieht den sozialen Zusammenhalt in Gefahr. 42 Prozent erwarten, dass die individuellen Aufstiegschancen schlechter werden. Eine weitere Furcht: steigende Umweltbelastungen. Um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen macht sich hingegen nur eine kleine Minderheit Sorgen.

Mehrheit glaubt an starke Wirtschaft

Die Mehrheit glaubt, dass die Wirtschaft noch stärker wird oder zumindest nichts an Konkurrenzfähigkeit einbüßt. Fast 40 Prozent rechnen mit einem stärkeren Wirtschaftswachstum. Offenbar sehen die Bürger nicht, dass die bevorstehende Überalterung der Bevölkerung und die erwartete steigende Steuer- und Abgabenbelastung negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit haben könnten. Dabei rechnen vier von fünf Bürgern damit, dass der Staat in zehn Jahren mehr von ihrem Geld als heute für sich beansprucht.

Bei den Sozialleistungen erwarten die Menschen vor allem bei der staatlichen Alterssicherung Einschnitte: 63 Prozent rechnen hier mit Kürzungen. Fast ebenso viele stellen sich auf Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen ein; jeder Zweite bei der Pflege. Mit Kürzungen bei Hartz IV rechnet dagegen nur ein Drittel der Befragten – diese Säule des Sozialsystems wird von der Bevölkerung somit als stabilste angesehen. In die Politiker setzen die Bürger kein großes Vertrauen.

Weder auf der kommunalen Ebene noch auf Landes- oder Bundesebene und schon gar nicht in Brüssel wird nach Ansicht der großen Mehrheit der Bevölkerung ein bedeutender Beitrag zur Zukunftsfähigkeit von Deutschland geleistet. Besonders vernichtend ist das Urteil über die europäische Politik, der drei Viertel der Befragten ein eher geringes bis gar kein Vertrauen entgegenbringen. Der Bund kommt nur wenig besser weg. Deutlich mehr Hoffnung setzen die Menschen in andere Institutionen: Kleinen und mittleren Betrieben vertrauen zwei Drittel der Bevölkerung. Auch Forschungsinstitute, Schulen und Hochschulen erhalten gute Noten.

Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und internationalen Großunternehmen traut dagegen die Mehrheit nicht über den Weg. Bürgerinitiativen liegen bei der Beurteilung im Mittelfeld. Die Verantwortung für die soziale Sicherung sehen 93 Prozent der Deutschen beim Staat. Überraschenderweise sehen fast ebenso viele Bürger aber auch jeden Einzelnen in der Pflicht. 85 Prozent der Befragten billigen zudem den Familien und den Arbeitgebern hier eine wichtige Rolle zu. Gewerkschaften, Kirchen und Wohlfahrtsverbände sind dagegen in den Augen der Bevölkerung weniger in der Pflicht, sich um die soziale Sicherheit zu kümmern.

Quelle: Welt Online