Deutschland streitet wieder über die Kernkraft. Doch wie beeinflusst die Atom-Krise in Japan die Menschen, die täglich unsere AKW steuern?
Zwischen Elbe-Deich und dem Wassergraben, der das Kernkraftwerk Brokdorf umgibt, steht ein kleiner Gedenkstein mit einer verwitterten Holztafel. Auf der Inschrift steht: „Den Toten, Kranken und Vertriebenen von Tschernobyl.“ Verharrt man drei Minuten vor der kleinen Gedenkstätte, kommen zwei stämmige Mitarbeiter des Werkschutzes in einem silbernen Kleinwagen vorgefahren und erkundigen sich freundlich, ob sie helfen könnten. Weggeräumt wird die mit einem Kreuz verzierte Mahntafel im Schatten der Doppelzäune jedoch nie.
Brokdorf ist eines von 17 deutschen Atomkraftwerken in Deutschland. Die Katastrophe in Japan hat die Meiler hierzulande zurück ins Bewusstsein geholt. Es wird wieder über einen Atomausstieg gestritten, fünf alte AKW wurden vom Netz genommen, zwei stehen ohnehin seit Jahren still. Brokdorf kann nach der Laufzeitverlängerung noch bis 2033 Strom erzeugen. Oder erzwingt die Debatte ein früheres Aus?
An diesem nasskalten März-Tag ist die Grenze zwischen der hellgrauen Reaktorkuppel und dem wolkenverhangenen Himmel kaum auszumachen. Der kleine Ort an der Elbemündung hat zwar nur 1000 Einwohner, er kann sich aber dennoch ein Sportzentrum, ein beheiztes Freibad mit Riesenrutsche und eine Eislaufhalle leisten.
Eine tiefrote Bandenwerbung zeigt, wem der Ort diesen Luxus zu verdanken hat: der „E.on Kernkraft GmbH“. Die Leute hier wissen das. Mag Atomkraft jetzt wieder viele Gegner haben: In der Wilstermarsch, im äußersten Südwesten Schleswig-Holsteins, kommt keiner auf die Idee, zur Menschenkette um den Meiler zu trommeln. 500 Männer und Frauen aus Brokdorf, Glücksstadt oder Itzehoe steuern ihre Mittelklassewagen jeden Tag durch das stählerne Werkstor, strömen durch die Personenkontrolle sowie die „Vereinzeler“ genannten Zutrittsschleusen und verteilen sich über das weitläufige Gelände hinter dem Deich.
Besuchergruppen sind jetzt seltener geworden, seit die Bilder der japanischen Atomkatastrophe die Zeitungen und Fernsehkanäle füllen. Erst am Montag hatte eine Realschulklasse aus Glücksstadt ihre AKW-Besichtigung abgesagt. „Ich kann jetzt einfach kein Atomkraftwerk betreten“, hatte die Lehrerin gesagt. Hauke Rathjen schüttelt darüber den Kopf. „Gerade jetzt sollte man sich doch informieren“, sagt der Leiter der Öffentlichkeitsarbeit in Brokdorf.
Er konnte die Pädagogin nicht umstimmen und bleibt nun auf seinen rot-gelben AKW-Anstecknadeln mit der Aufschrift „Klimaschützer – bitte nicht abschalten“ ebenso sitzen wie auf den Broschüren mit dem Titel: „Warum Tschernobyl bei uns nicht passieren kann.“ Der Vorfall ist symptomatisch: Obwohl Analysen über das japanische Unglück oder neue Erkenntnisse über deutsche Meiler noch nicht vorliegen, sind viele Menschen von der Macht der Bilder überwältigt. Die Leute sehen die verzweifelten Rettungsversuche in Fukushima, in ihren Köpfen sind die Bilder der Explosionen abgelegt. Da können die Atomtechniker in Brokdorf noch so argumentieren: Gegen die Bilder aus Japan kommen sie nicht an. Und regelrecht wütend werden sie, wenn sie die Diskussionsrunden im Fernsehen verfolgen.
„Es drängt sich der Eindruck auf, dass wir einfach nur zum Abschuss freigegeben wurden“, sagt Joachim Stüber, 57 Jahre alt und stellvertretender Produktionsleiter in Brokdorf. Kaum einer zeige wirklich Erkenntnisinteresse. Anklagend ist die Tonlage, die Leute wie Stüber von draußen erreicht; drinnen im Atomkraftwerk ist die Stimmung auch deshalb leicht gereizt. Die ganze Debatte, so sehen es die Techniker und Ingenieure, wird ohne jene geführt, die am meisten Sachkenntnis beizutragen hätten.
Das Kernkraftwerk Brokdorf ist 1986 ans Netz gegangen, drei Monate nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Es war weltweit der erste Meiler, der nach dem GAU in der Ukraine in Betrieb genommen wurde. Das Kraftwerk, das mit 1460 Megawatt zu den leistungsstärksten in Deutschland gehört, gilt selbst unter Atomkritikern als eher unauffällig. Erst ein Mal ereignete sich dort ein sogenannter INES-1-Vorfall – das ist die unterste Stufe auf der „International Nuclear Event Scale“, die die Schwere von Reaktorpannen in sieben Kategorien einteilt. Im vergangenen Jahr zählte Brokdorf zu den drei produktivsten Kraftwerken der Welt.
Der Meiler erzeugte zwölf Milliarden Kilowattstunden Strom. Hätte man diese Menge Elektrizität mit dem durchschnittlichen deutschen Kraftwerkspark produziert, wären 13 Millionen Tonnen Kohlendioxid mehr in die Atmosphäre gepustet worden. Aber auch die Angst vor dem Klimawandel hat derzeit keine Chance gegen die Bilder aus Japan. Kurz gesagt: Die Mitarbeiter in Brokdorf empfinden es als ziemlich unausgewogen, wie derzeit über die Vor- und Nachteil von Atomkraft diskutiert wird.
Ingenieure vertrauen der Technik
„Man geht schon mit einem anderen Gefühl zur Arbeit“, sagt Hans-Dieter Dirksen, 54. Und damit ist nicht gemeint, dass er an seinem Job zweifelt. Der Ingenieur hat seinen Arbeitsplatz im Allerheiligsten des Kernkraftwerks, der Leitwarte. Sie liegt im inneren Sicherheitsbereich hinter einer vierzig Zentimeter dicken Stahltür und ist nur durch eine weitere Personenschleuse zu erreichen. Am zentralen Pult der Leitwarte überwacht der Schichtleiter auf zahllosen Monitoren und Messinstrumenten, dass in allen Rohren der Druck stimmt und die Temperaturen stets der Norm entsprechen.
Dirksen trägt mit seinen Mitarbeitern die unmittelbare Verantwortung für den reibungslosen Betrieb des Atomkraftwerks Brokdorf. Seine Augen blicken durch eine Nickelbrille über die Monitore vor ihm. Hat sich etwas für ihn geändert, seit in Fukushima die Sicherheitsstandards der Atomindustrie in Rauch aufgegangen sind? Schleicht die Angst, die weite Teile der Bevölkerung ergriffen hat, auch in die AKW-Leitwarten? „Angst habe ich nicht“, sagt Dirksen. „Wir haben Vertrauen zu dieser Technik.“ Und das „Restrisiko“, das jetzt alle diskutieren und neu bewerten? „Ich kann mit dem Restrisiko leben und damit umgehen.“
In Japan kämpfen 50 Männer unter Einsatz ihres Lebens gegen den Super-GAU. Käme es hier in Brokdorf zur Katastrophe, wären Dirksen und sein Kollege Stüber womöglich auch Teil einer solchen Gruppe. Können sie sich vorstellen, ihr Leben ebenso einzusetzen wie es die japanischen Kollegen gerade tun? Diese Frage beschäftigt Joachim Stüber seit Tagen. „Ich vergleiche das mit der Situation, in der wir hier bei den jährlichen unangemeldeten Sicherheitsübungen sind“, sagt er. „Da muss man unter Aufsicht von Gutachtern völlig krasse Szenarien meistern, die zum Teil technisch oder physikalisch sogar unmöglich sind. Man spielt dann nur seine Rolle, schaut nicht auf die Uhr, man trinkt und isst nichts und vergisst stundenlang alles um sich herum, bis die Aufgabe gelöst ist.“
So, sagt Stüber, stellt er sich das auch bei den 50 Helden von Fukushima vor. Mitarbeiter deutscher Atomkraftwerke müssen regelmäßig Sicherheitslehrgänge besuchen. In einem „Simulatorzentrum“ in Essen sind die Leitwarten aller Atomkraftwerke eins zu eins nachgebaut. Dort wird der Ernstfall trainiert. Stüber absolvierte seinen letzten Kurs wenige Tage vor dem Atomunfall in Japan. „Es war Zufall, aber wir hatten dort gerade einen ‚Station Black Out‘ geübt.“
Das ist ein kompletter Stromausfall der gesamten Anlage. So wie er in Fukushima durch den Tsunami ausgelöst wurde. Die Betriebsmannschaft muss dann ohne externe Hilfe versuchen, den Reaktor zu stabilisieren. Was im Simulator gelang, ging in Japan daneben. „Wenn man drei Tage später im Fernsehen diese Bilder sieht, wird man doch etwas nachdenklich“, sagt Stüber. Uwe Jorden, 55, gehen die Vorgänge in Japan besonders nah. Der Leiter des Kernkraftwerks Brokdorf hatte Ende der 90er-Jahre zwei Wochen lang das Kernkraftwerk Onagawa in Japan besucht.
„Mein Betreuer hatte mich damals auch in Sendai zu sich nach Hause eingeladen“, sagt Jorden: „Die Stadt ist heute dem Erdboden gleichgemacht.“ Für die Kollegen in Japan empfindet Jorden ein sehr „schmerzliches Mitgefühl“. Auch den Brokdorf-Chef bewegt seit gut einer Woche ständig die Frage, ob und wie er selbst so eine Situation meistern würde. „Ich versetze mich natürlich in die Situation meines Kollegen an derselben Stelle in Japan“, sagt Jorden. „Würde ich bleiben? Natürlich. Und dessen ist sich auch meine Frau bewusst: ,Du bist der Kapitän auf dem Schiff‘, hat sie gesagt.“
Technische Standards lassen sich nicht vergleichen
Wenn man in die Situation hineinwächst, glaubt Jorden, „dann hat man nur sein Ziel und die Aufgabe vor Augen – und blendet die Gefahr für das eigene Leben aus“. So ein Verhalten habe man schließlich schon bei anderen existenziellen Krisen und Katastrophen beobachtet: „Die Leute tun, was getan werden muss. Sie brechen, wenn überhaupt, erst hinterher zusammen.“Der technische Standard, die sogenannte Auslegung des Atomkraftwerks Brokdorf, ist mit derjenigen in Fukushima nicht zu vergleichen.
Hier ein einzelner Druckwasser-Reaktor mit zwei getrennten Wärmekreisläufen, dort eine ganze Kette von sechs Siedewasser-Reaktoren mit jeweils einzelnen Wasserkreisläufen. Das Abklingbecken für benutzte Brennstäbe liegt in Japan außerhalb des Sicherheitsbehälters, in Deutschland ist es innerhalb des „Containments“. Anders als Fukushima verfügt Brokdorf über einen Bunker mit einer zweiten „Notleitwarte“, vier weiteren Diesel-Aggregaten und zusätzlichem Kühlinventar.
Wasserstoff-Explosionen, wie sie in Fukushima die Reaktorgebäude zerfetzten, sind in Brokdorf unwahrscheinlich, weil hier unter der Reaktorkuppel in Deutschland chemische Katalysatoren verbaut sind, die durch eine „autokatalytische Verbrennung“ die Bildung von Knallgas von vornherein verhindern. Brokdorf werde ständig nachgerüstet, sagt Jorden: „Wir investieren pro Jahr zwischen 40 und 50 Millionen Euro in die Anlage.“
Trotz dieser Unterschiede könne er die Entwicklung des dramatischen Störfalls in Japan nicht bewerten, sagt Jorden. Was dort falsch gelaufen ist, vermöge er aus dieser Entfernung nicht zu beurteilen. „Ich maße mir nicht an, da irgendeine Kritik zu üben“, sagt er: „Ich habe auch zu keinem Zeitpunkt gedacht: ‚Wie konntet ihr nur‘?“ Gerade deshalb hat der Kraftwerksleiter auch nicht viel Verständnis für die von der Bundesregierung gerade angeord?nete Abschaltung der sieben ältesten deutschen Meiler für drei Monate.
An der Sicherheit der Anlagen habe sich ja schließlich nichts geändert. Und sicherer würden sie durch die Betriebsunterbrechung auch nicht. „Es macht mich fassungslos, wie in Deutschland damit umgegangen wird“, sagt Uwe Jorden. „Das ist nur Aktionismus, ohne Sinn und Verstand.“