Die Pharmaindustrie hat zwei milliardenschwere Probleme: Nachahmer-Medikamente und harte Zulassungsregeln machen das Geschäft kaputt.
Die Welt der Pharmakonzerne ist gespalten. Nirgendwo liegen Freud und Leid derzeit so weit auseinander. Grund für diese zwei Gesichter ist das sogenannte Patent Cliff. Dabei handelt es sich um das Auslaufen des Patentschutzes von Medikamenten mit Milliarden-Umsätzen. „Das Patent Cliff ist eine unternehmerische Gelegenheit für Hersteller von Generika“, freute sich auf der einen Seite Fresenius-Chef Ulf Schneider in der vergangenen Woche über neue Chancen für seine Generika-Tochter Fresenius Kabi: „In den nächsten zehn Jahren werden in den USA Medikamente mit einem Jahresumsatz von 22 Milliarden Dollar ihren Patentschutz verlieren.“
Nur einen Tag war die Laune bei Merck-Chef Karl-Ludwig Kley wesentlich schlechter. Er musste nämlich zugeben, dass das Ergebnis seiner Biotech-Tochter Merck Serono von „Herausforderungen und Enttäuschungen in der Forschungspipeline“ überschattet ist – Serono verliert durch Konkurrenz von Generika-Herstellern und Problemen bei der Zulassung neuer Mittel an Schwung, gleichzeitig gelte es, die teure klinische Forschung von gleich neun neuen Wirkstoffen zu finanzieren.
Dabei steht Serono noch relativ gut da, diverse Konkurrenten haben weit mehr Probleme mit der Nachahmer-Konkurrenz: Denn das von der forschenden Pharma-Industrie so lange angekündigte „Patent Cliff“ ist inzwischen Realität. Fresenius-Chef Schneider ist mit seiner Schätzung von 22 Milliarden Umsatz-Einbrüchen noch konservativ, weltweit stehen bis zum Ende des Jahrzehnts bis zu 100 Milliarden Dollar pro Jahr auf der Kippe, knapp ein Achtel des weltweiten Gesamtumsatzes mit innovativen Medikamenten von gut 800 Milliarden Dollar jährlich.
Bis 2013 verlieren 13 Blockbuster mit je mindestens einer Milliarde Dollar Jahresumsatz verschiedener Hersteller in den wichtigen Märkten in Europa und den USA ihre Exklusivität. Am härtesten getroffen ist der weltgrößte Pharmahersteller Pfizer – bis 2012 wird Pfizer den Patentschutz für Medikamente verlieren, die über 40 Prozent der Unternehmens-Umsätze einbringen. Darunter sind der weltweit am häufigsten verschriebene Cholesterin-Senker Lipitor, in Deutschland als Sortis vermarktet, sowie das Potenzmittel Viagra.
Für den französischen Pharma-Riesen Sanofi-Aventis stehen bis 2013 Bestseller wie die Krebsmittel Eloxatin und Taxotere, der Gerinnungshemmer Lovenox sowie der Blutverdünner Plavix auf der Abschussliste. „2010 war das erste Jahr, in dem die Konkurrenz von Nachahmermitteln für mehrere wichtige Produkte wie Lovenox richtig deutlich wurde“, kommentierte Sanofi-Chef Chris Viehbacher bei der Vorstellung seiner Bilanzzahlen Anfang des Monats in Paris. Auch der deutsche Chemie-Konzern Bayer legte am Montag enttäuschende Zahlen für seine Tochter Bayer Health Care vor, besonders die Generika-Konkurrenz für Verhütungsmittel belastete das Ergebnis.
„Wenn ich die Wahl zwischen einer roten und einer blauen Tablette habe und die blaue nur halb so viel kostet, aber genau so hilft, warum sollte ich dann nicht einfach die Hälfte bezahlen?“, fasste US-Präsident Barack Obama anlässlich einer Rede über seine Gesundheitsreform das Dilemma einer Industrie zusammen, die den Spardruck in den Gesundheitssystemen der Industriestaaten immer deutlicher in ihren Ergebnissen spürt. War noch vor 15 Jahren das Auslaufen des Patents keinesfalls gleichbedeutend mit einem Umsatzeinbruch, zwingen heute die Sparvorgaben der Politik Ärzte und Apotheker dazu, fast immer zum günstigeren Nachahmerpräparat zu greifen. „Läuft ein Patent aus, bricht der Umsatz meist schlagartig um 80 bis 90 Prozent ein“, erklärt Siegfried Throm vom Verband forschender Pharmaunternehmen.
Blockbuster scheitern kurz vor Schluss
Das allein wäre noch zu stemmen, würde es den forschenden Unternehmen gelingen, die alten durch neu erforschte Blockbuster zu ersetzen. Doch genau da hapert es aktuell speziell bei den Giganten der Branche: Diverse neue Umsatzhoffnungen scheiterten entweder in der letzten Phase der klinischen Erforschung, oder wurden gar von den Zulassungsbehörden in den Startmärkten Europa oder USA zurückgewiesen.
Von 1997 bis 2007 sank die Anzahl der in den USA zugelassenen Medikamente um die Hälfte, und der Trend zum Misserfolg in der Forschung bringt die Großen der Branche zusehends unter Druck: Allein in den vergangenen drei Monaten musste Sanofi ein neues Brustkrebsmittel abschreiben, Astra-Zeneca gab einen Wirkstoff gegen Prostata-Krebs auf, Roche ein Diabetes-Medikament, und die deutsche Merck KGaA musste jüngst den Zulassungsantrag für den Nachfolger für ihr erfolgreichstes Multiple-Sklerose-Mittel zurückziehen: Die europäische Zulassungsbehörde verdächtigte das MS-Medikament Cladribin überraschenderweise, Krebs zu verursachen.
„In der gesamten Branche hat sich die Erfolgsquote in der letzten klinischen Erprobungsphase in den vergangenen vier bis fünf Jahren verschlechtert – in manchen Bereichen fiel sie auf 50 Prozent“, sagt Merck-Serono-Forschungschef Bernhard Kirschbaum. Der Pharma-Forscher sieht dafür gleich mehrere Gründe: „Unser Verständnis von Krankheitsbildern wird komplexer, dementsprechend hoch ist inzwischen der Anspruch, noch neue Mittel zu finden – die niedrig hängenden Früchte sind längst abgeerntet. Im Bereich der Onkologie und der neuro-degenerativen Erkrankungen ist es schwieriger geworden, neue Mittel zu finden, die bei allen Patienten gleich gut wirken.“
Weiter steigt mit dem Spardruck im System auch der Anspruch der Behörden – längst reicht es nicht mehr aus, lediglich die Wirksamkeit eines neuen Mittels zu beweisen, um die Zulassung zu erhalten: „Gefragt wird nicht nur, ob es überhaupt wirkt und verträglich ist, sondern auch, welche Verbesserungen es gegenüber bisherigen Mitteln gibt“, weiß VFA-Experte Throm. Zudem legen die Behörden zusehends strengere Maßstäbe bezüglich potenzieller Nebenwirkungen an. Das wurde Mercks Cladribin zum Verhängnis. Bernhard Kirschbaum überlegt nun, die Daten einer weiteren Studie vorzulegen, um die Befürchtungen der Zulassungsbehörde zu widerlegen.
Pharma-Giganten stehen vor einem Dilemma
Bricht der Umsatz aufgrund der auslaufenden Patente ein, stehen die Pharma-Giganten vor einem Dilemma: Um gegenzuhalten, müsste mehr geforscht werden, das Geld dafür jedoch fehlt bereits. Hinzu kommt der extrem lange Entscheidungshorizont: Im Schnitt über zwölf Jahre dauert es, einen Wirkstoff fertig zu entwickeln, ein schnelles Umsteuern hilft also nicht. Für manche große Unternehmen rächt sich nun die Entscheidung, in den 90er-Jahren nicht stärker in die Erforschung von inzwischen erfolgreichen Gentech-Medikamenten investiert zu haben.
Die paradoxe Reaktion mancher Giganten ist nun, weitere Risiken zu scheuen und ausgerechnet bei der Forschung zu sparen: Pfizer etwa will im laufenden Jahr für die Entwicklung nur noch sechseinhalb Milliarden Dollar ausgeben, und sechs Forschungszentren dicht machen, darunter eines für die bislang als vielversprechend geltende RNA-Interferenztechnik, von der sich die Investoren bislang eine ganze Reihe neuer Gentech-Mittel erhofft hatten. 2010 investierte der Konzern noch mehr als neun Milliarden Dollar. Bayer Health Care spart ebenfalls beim Personal, und streicht bis 2012 700 Stellen, auch Roche und GlaxoSmithKline kündigten Sparprogramme an.
Denn für die Konzerne wird es angesichts der sinkenden Erfolgsraten zusehends schwieriger, die hohen Forschungsausgaben gegenüber den Investoren zu rechtfertigen. Anstatt selbst im großen Stil in langfristig angelegte Forschung zu investieren, kaufen sie deswegen lieber erfolgreiche, mittelgroße Gentech-Unternehmen auf, die sich stärker als die Großen im Business auf die Erforschung von margenträchtigen Nischenkrankheiten konzentriert haben.
Der größte Deal im laufenden Jahr war der Aufkauf von Genzyme durch Sanofi-Aventis für gut 20 Milliarden Dollar, 2010 übernahm Pfizer Wyeth, der US-Pharmariese Merck&Co kaufte Schering-Plough. Doch wie sehr auch dieser Ansatz Risiken birgt, zeigt einmal mehr die deutsche Merck KGaA: Sie hatte das Schweizer Biotech-Unternehmen Serono im Jahr 2006 vor allem wegen des MS-Mittels Cladribin gekauft, das zu diesem Zeitpunkt in der letzten klinischen Testphase stand. Hätte Merck selbst die Erforschung in die Hand genommen, hätte der Konzern das Geld für die entscheidende zweite Studie vielleicht noch ausgegeben. So bleibt heute nur ein potenzieller Millionenverlust. Merck-Chef Kley musste gegenüber seinen Investoren eingestehen: „Das schmerzt, und der Schmerz hat noch nicht nachgelassen.“