Der Dioxin-Skandal macht klar: Der Bauernhof im Grünen hat lange ausgedient. Genetisch optimierte Hühner sorgen für maximale Margen.
Ein Huhn, das im Jahr 1960 das Licht der Welt erblickte, hatte etwa zweieinhalb Monate zu leben. Zumindest, wenn es ein Masthuhn war. Dann hatte das Tier in der Regel genug gefressen, um anderthalb Kilogramm auf die Waage zu bringen und damit „schlachtreif“ zu sein. Heute beträgt die Lebensspanne eines Masthuhns im Schnitt gerade einmal 35 Tage.
Was ist da passiert? Die Erklärung liegt in der Struktur der modernen Landwirtschaft: In den vergangenen Jahrzehnten hat sie sich industrialisiert, konzentriert und globalisiert. Die rasant wachsende Weltbevölkerung und der Anspruch der Verbraucher, für Nahrungsmittel immer weniger Geld ausgeben zu wollen, haben die Agrarbranche zu dem gemacht, was sie heute ist: eine von Großkonzernen geprägte Industrie mit global agierenden Unternehmen und komplizierten Zulieferstrukturen.
Der Dioxin-Skandal zeigt einmal mehr, wie verblüffend lang die Kette der Unternehmen geworden ist, die Inhaltsstoffe für unser Essen liefern: Ein Biodiesel-Hersteller aus dem Emsland verkauft an einen niederländischen Fetthändler, der wiederum an einen Fett-Verarbeiter aus Schleswig-Holstein, und der über diverse Futtermittelhändler schlussendlich an Geflügelzüchter, die das verunreinigte Futter schließlich an die Tiere verfüttern. Der klassische Bauernhof, auf dem der Landwirt noch das Futter für seine Tiere selbst anbaut und alle Produktionsschritte in der Hand hat, ist schon lange passé. Bei keinem anderen Produkt zeigt sich das so deutlich wie in der Geflügel- und Eierindustrie.
Beispiel Wiesenhof. Der Mutterkonzern, die PHW-Gruppe mit Sitz im niedersächsischen Rechterfeld, ist Deutschlands größter Produzent von Geflügelfleisch. Mehr als jedes dritte in Deutschland verspeiste Hähnchen stammt von Wiesenhof: fast 300.000 Tonnen im Jahr. Die meisten Wiesenhof-Hühner wachsen allerdings nicht auf eigenen Flächen auf, sondern bei einem von rund 800 Landwirten, die Verträge mit dem Geflügelkonzern haben. Wiesenhof liefert den Bauern die frisch geschlüpften Küken – der Landwirt zahlt dafür rund 30 Cent inklusive Impfungen.
Das fertig gemästete Tier lässt dann in einer der Wiesenhof-Schlachtanlagen sein Leben und wird an den Konzern zurückverkauft, für rund 90 Cent pro Kilo. Der Landwirt ist verpflichtet, auch das Futter vom Unternehmen zu beziehen. Auf der Internetseite des Wiesenhof-eigenen Futterherstellers Mega Tierernährung ist aufgelistet, welches Futter das Tier wann fressen soll: Vom ersten bis zum zehnten Lebenstag zum Beispiel die Futtermischung „Hähnchenstarter Standard“, danach „Hähnchenaufzucht I Standard“, zum Schluss „Hähnchen finisher Standard“.
Vom Küken bis zum Chicken Wing
In den Listen ist aufgeführt, wie viel Protein das Futter enthält, wie viel Kalzium, Phosphor oder Natrium, und was das Huhn nach dem Verzehr an welchem Tag wiegen soll. Die Schlachthuhn-Produktion funktioniert heute mindestens so technologisiert und standardisiert wie die Herstellung eines Autos. Der Unterschied ist: Beim Auto weiß der Hersteller, woher die Zulieferungen stammen.
Denn selbst die Firma Wiesenhof, die als einziges Unternehmen der Branche den gesamten Produktionsprozess von der Kükenzucht über das Anmischen des Futters bis hin zum fertigen Chicken Wing selbst organisiert und in der Branche als Vorbild für Transparenz gilt, kann keine Antwort auf die Frage geben, wie viele Zulieferer die Inhaltsstoffe für das Geflügelfutter liefern. „Damit tun wir uns schwer“, räumt Unternehmenssprecher Frank Schroedter ein.
Für Reinhild Benning, Agrarexpertin bei der Naturschutzorganisation BUND, zeigt sich hier ein fataler Zusammenhang: „Die Landwirte, die Verträge mit solchen Konzernen haben, wissen grundsätzlich nicht darüber Bescheid, was im Tierfutter steckt. Wie sollen es dann erst die Verbraucher wissen?“
Fast alle Lebensmittelskandale der vergangenen Jahre hatten ihren Ursprung in den Futtermitteln: BSE durch verunreinigtes Tiermehl im Rinderfutter, außerdem Altöl, hormonell wirksame Pharmaabfälle, Nitrofen. Und nun also Dioxin. Dass solche Skandale möglich sind, liegt daran, dass Eier und Kartoffeln, Geflügel- oder Schweinefleisch in den vergangenen Jahrzehnten zu Designerprodukten geworden sind. So nahrhaft wie möglich sollen sie sein. Dabei schnell wachsend, billig herzustellen und appetitlich anzuschauen. Geflügelzuchtkonzerne, weltweit operierende Futtermittelproduzenten und Universitäten forschen täglich daran, wie sich aus Ackerfrüchten und Nutztieren das Letzte herausholen lässt.
Beim Huhn klappt das mittlerweile ziemlich gut. Um ein Kilo Körpergewicht zuzulegen, muss das Masthähnchen 1,6 Kilogramm Futter fressen. Damit ist es weit effizienter als das Schwein, denn das muss für dieselbe Gewichtszunahme drei Kilogramm Futter fressen. Und: Hühnchen wachsen schneller.
Der effizienteste Broiler der Welt
Die günstigen Fress-und Wachstums-Quoten haben dazu geführt, dass weltweit jedes Jahr 45 Milliarden Hühner geschlachtet werden. 1960 waren es sechs Milliarden. Die modernen Masthühner sind über Jahrzehnte genetisch optimiert worden, sagt Markus Rodehutscord, Experte für Tierernährung an der Universität Hohenheim. „Durch Züchtung bauen die Tiere heute schneller mehr Muskelmasse auf als noch vor ein oder zwei Jahrzehnten.“ Führend bei solchen genetischen Zuchtprogrammen sind global agierende Landwirtschaftskonzerne.
Zum Beispiel Nutreco aus den Niederlanden, das einen Jahresumsatz von 4,5 Milliarden Euro erzielt und weltweit mehr als ein Dutzend Forschungszentren betreibt. Oder der US-Konzern Aviagen, nach eigenen Angaben „Weltmarktführer für Geflügel-Genetik“, oder Konkurrent Cobb-Vantress, ebenfalls aus den USA, der laut Eigenwerbung den „effizientesten Broiler der Welt“ gezüchtet hat.
Mindestens ebenso stark wie die genetische Auslese hat zum Fortschritt beim Produkt Huhn allerdings das Futter beigetragen, sagt Experte Rodehutscord. „Wir besitzen heute einen hohen Forschungsstand darüber, welche Zusatzstoffe im Tierfutter die Intensität der Produktion unterstützen.“ Mit anderen Worten: Je besser das Futter auf den Bestimmungsort des Huhns – Legebatterie oder Ofen – abgestimmt ist, desto nutzwertiger ist es auch.
Eine Legehenne bekomme heute völlig anders zusammengesetztes Futter als ein Masthuhn, sagt Rodehutscord. „Beim Masthuhn ist ein hoher Anteil an Proteinen im Futter sinnvoll, damit das Tier in kurzer Zeit viel Muskelmasse aufbauen kann. Im Futter von Legehennen ist dagegen typischerweise viel Kalzium enthalten – das soll die Eierschale stabil machen.“ Fünf Milliarden Euro geben deutsche Landwirte jedes Jahr für das Futter ihrer Tiere aus. Allein 256 Millionen Euro gehen an die Hersteller der Futterzusatzstoffe, schätzt die Arbeitsgemeinschaft für Wirkstoffe in der Tierernährung. Dazu gehören Aromen, Spurenelemente, Vitamine oder Emulgatoren – Stoffe, die das Futter leichter verdaulich machen oder die Masthähnchen dazu anregen, auch dann noch weiterzufressen, wenn sie satt sind.
Das Beispiel Frühstücksei zeigt die Tendenz, die in allen Zweigen der Landwirtschaft zu finden ist: Die Futtermittel werden aus immer mehr Einzelbestandteilen zusammengesetzt. „Die Hersteller sind hoch spezialisiert – und in ihrem Kompetenzbereich weltweit bedeutend“, sagt BUND-Expertin Benning. „In Zukunft werden nicht mehr einzelne landwirtschaftliche Betriebe miteinander konkurrieren, sondern vertikal integrierte Produktionssysteme, die sich auf einzelne Marktsysteme spezialisiert haben und auf internationalen Märkten operieren“, prognostiziert Hans-Wilhelm Windhorst, wissenschaftlicher Leiter des niedersächsischen Kompetenzzentrums Ernährungswissenschaft.
Sojabohnen zum Beispiel machen nach Angaben des Deutschen Verbandes für Tiernahrung (DVT) 21 Prozent des Standard-Legehennenfutters aus. Die Bohnen stammen fast immer aus dem Anbau eines von vier weltweit aktiven Konzernen: Archer Daniels Midland, Bunge & Born, Cargill und Dreyfus. „Problematisch ist das, weil diese kleine Gruppe an Anbietern darüber bestimmt, welche genetischen Veränderungen an den angebauten Sojabohnen vorgenommen werden“, sagt Eckehard Niemann von der Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirte. „Es gibt heutzutage kaum mehr Möglichkeiten, Sojabohnen zu beziehen, die nicht genetisch verändert wurden.“
Der normale Bauer kauft ohnehin Sojabohnen, Mais oder Weizen nicht selbst beim Erzeuger ein. In aller Regel stammt das Futter aus einem der großen Mischfutterwerke. In Deutschland teilen zehn dieser großen Futterhersteller mehr als die Hälfte des Marktes unter sich auf. Marktführer ist die Cremer Futtermühlen GmbH aus Hamburg, die fast 13 Prozent allen Futters herstellt.
Billig muss es sein
Die riesigen Werke verarbeiten pro Jahr 68 Millionen Tonnen Futtermittel, rechnete die Organisation Foodwatch in ihrem Bericht „Lug und Trog“ vor: „Würde man den gesamten Jahresbedarf auf Lastwagen laden, ergäbe dies eine LKW-Schlange von 39.000 Kilometern Länge. Diese würde fast einmal um den Erdball reichen.“
In die Mühlen der Futterwerke kommen Berge von Getreide, Grünfutter, Molkerückstände, Fischmehl oder die zuletzt in den Fokus geratenen Fettsäuren – alles, was in der Lebensmittelproduktion abfällt, gesetzlich erlaubt ist und günstig zu haben. Aus rein ökonomischer Sicht profitiert der Landwirt von diesen Konzentrationsprozessen bei den Zulieferern und Futtermittelherstellern. Denn je größer die Produktionsmenge, desto günstiger wird das Futter. Und das ist für die Bauern extrem wichtig. Der Einkaufspreis entscheidet, ob ein Betrieb wirtschaftlich arbeitet oder Verluste einfährt. In der Geflügelmast machen die Futterkosten etwa die Hälfte der Produktionskosten aus. „Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum viele Landwirte gar nicht erst nachfragen, was im Futter steckt“, sagt BUND-Expertin Benning.
Tierernährungsexperte Rodehutscord sieht das anders. „Wir müssen das Thema Landwirtschaft auf globaler Ebene betrachten, nicht nur auf deutscher.“ Der Anstieg der Weltbevölkerung bringe mehr Bedarf an tierischen Proteinen mit sich, was ein gewisses Maß an „Intensität der Produktion“ nicht vermeiden lasse. „Der ethische Aspekt, wie man ein Tier behandelt und womit man es füttert, ist mit Sicherheit wichtig“, sagt er. „Aber man kann das Thema nicht allein darauf konzentrieren.“