Nach der geplatzten Fusion mit der New Yorker NYSE fehle ein “Plan B“, sagen Kritiker
Frankfurt. Reto Francioni lässt sich üblicherweise nicht aus der Ruhe bringen. Doch den Chef der Deutschen Börse regt es erkennbar auf, dass Brüssel ihm einen Strich durch das wichtigste Projekt seiner Amtszeit machte: die Fusion mit der New Yorker NYSE. "In den letzten Tagen haben mich viele Vorstände und Politiker angerufen und kopfschüttelnd gefragt, was mit Europa los ist", sagte der Schweizer der "Financial Times Deutschland" (FTD).
Dass das Management Verantwortung für den Fusionsflop übernehmen soll, erste Rücktrittsforderungen laut werden - das alles perlt noch an Francioni ab. In Frankfurt ist der Buhmann längst ausgemacht: bürokratische Brüsseler Beamte, die die Börsenwelt nicht verstehen. Der promovierte Jurist Francioni schließt eine Klage nicht aus.
Gewiss: Francioni hat - anders etwa als Commerzbank-Chef Martin Blessing - nie ausdrücklich seine berufliche Zukunft an den Geschäftsverlauf seines Konzerns gekoppelt. Dass der meist eher behäbig auftretende Schweizer mit Verve für den Zusammenschluss mit der NYSE Euronext eintrat, wird indes keiner bestreiten.
Mit markigen Worten angelte er erfolgreich die Aktionäre: "Großartige Chance", "Quantensprung", "neue Dimension". Es stand schließlich viel auf dem Spiel für die Deutsche Börse. Das Scheitern ist die siebte Niederlage seit dem Jahr 2000. Erfolglos im Visier hatten die Frankfurter die Handelsplätze in Zürich, London und Mailand. 2006 ging der Kampf um die europäische Fünfländerbörse Euronext verloren - gegen die NYSE.
"Wir sind der Meinung, dass die Deutsche Börse jetzt einen Plan B vorlegen muss, um Wege für zukünftiges Wachstum aufzuzeigen", schrieb die DZ Bank nach dem Brüsseler Veto vom Mittwoch. Francionis Antwort ist bisher die altbekannte: Organisches Wachstum und der Blick nach Asien. "Wir sind stark genug, auch wenn es jetzt länger dauern wird als mit einer Fusion", bekräftigt der 56-Jährige im "FTD"-Interview.
Eine Strategie, geschweige denn eine Vision fehlt - das meint nicht nur Johannes Witt, Betriebsrat und Aufsichtsratsmitglied der Deutschen Börse AG: "Ich sehe derzeit keine wirkliche Strategie." Henning Gebhardt, Leiter europäische Aktien bei der mächtigen Deutsche-Bank-Fondstochter DWS, kritisiert in der "Wirtschaftswoche": "Das Geschäftsmodell hat sich einfach zu wenig nach vorn entwickelt. Da hatte die Börse in den letzten Jahren zu wenig neue Ideen. Als Aktionär der Deutschen Börse kann ich nicht zufrieden sein." Der passionierte Angler Francioni, der den DAX-Konzern seit November 2005 führt, habe nie eine wirkliche Vision entwickelt, ätzt ein Kritiker.
Analysten meinen, nach dem Scheitern der Fusion mit der NYSE habe das Management um Francioni bislang allenfalls einen "Plan B light" vorgelegt. Dass der Konzern bei seiner erfolgreichen Tochter Eurex weiteres Potenzial sieht, sich seinen Teil der Abwicklung des gigantischen außerbörslichen Derivatehandels von Banken (OTC) sichern will, der über kurz oder lang auf regulierte Handelsplätze überführt werden soll - alles keine Überraschung.
"Die Deutsche Börse muss sich ihre künftige Strategie sehr gut überlegen, aber so eilig ist die Sache nicht", sagt Richard Stehle, Leiter des Instituts für Banken- und Börsenwesen an der Berliner Humboldt-Universität. "Die Deutsche Börse ist vom Grundgeschäft her sehr gut und sehr breit aufgestellt und kann sich etwas Zeit lassen." Allerdings müsse das Unternehmen in Sachen Fusionen künftig "wohl etwas kleinere Brötchen backen".
DWS-Manager Gebhardt betont indes: "Hin und wieder muss es einen Neuanfang geben - in welcher Form auch immer." Francioni selbst hält sich zu persönlichen Konsequenzen bislang bedeckt. Auf die Frage der "FTD", ob er eine weitere Amtszeit über 2013 hinaus anstrebe, antwortet er knapp: "Alles zu seiner Zeit und am richtigen Ort." Am nächsten Montag kommt der Aufsichtsrat des Konzerns zusammen.