Die Entlassung einer Supermarkt-Kassiererin wegen 1,30 Euro ist nicht rechtens
Erfurt/Hamburg. Deutschlands bekannteste Supermarktkassiererin hat einen überraschenden Sieg errungen. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschied gestern in einem wegweisenden Urteil, dass die fristlose Kündigung der als "Emmely" bekannt gewordenen Barbara E. nicht rechtens ist. Die heute 52-Jährige war von ihrem Arbeitgeber, Kaisers-Tengelmann, wegen der Unterschlagung zweier Pfandbons im Wert von 1,30 Euro ohne vorherige Abmahnung entlassen worden. Dagegen hatte die dreifache Mutter geklagt und sowohl in erster als auch in zweiter Instanz verloren.
Das höchste deutsche Arbeitsgericht kassierte nun das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg. Zugunsten der Kassiererin werteten die Richter, dass sie schon seit 31 Jahren in dem Supermarkt arbeitete und sich damit ein hohes Maß an Vertrauen erworben habe. Dieses Vertrauen könne durch die für sie untypische und einmalige Unterschlagung nicht völlig zerstört werden. Hinzu komme, dass "Emmely" ihren Arbeitgeber vergleichsweise geringfügig wirtschaftlich geschädigt habe, erklärten die Richter. Daher wäre eine Abmahnung angemessen und ausreichend gewesen.
Barbara E. zeigte sich angesichts des Urteils "sprachlos vor Glück". Bei Mini-Diebstählen waren die Arbeitsgerichte bislang selten gnädig. Die rigide Rechtsprechung geht auf das sogenannte Bienenstich-Urteil im Jahr 1984 zurück. Damals hatte das höchste deutsche Arbeitsgericht die Kündigung einer Verkäuferin bekräftigt, die Kuchen aus der Auslage gegessen hatte.
Das BAG stellte gestern allerdings klar, dass es von seiner grundsätzlichen Linie nicht abgerückt sei. Bagatelldelikte könnten weiter eine fristlose Kündigung rechtfertigen. "Es kommt immer auf die besonderen Umstände des Einzelfalls an", sagte eine Sprecherin.
Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) begrüßte das Urteil. Es entspreche dem tiefen Gerechtigkeitsempfinden, dass ein einmaliger kleiner Verstoß nicht automatisch mit voller Härte bestraft werden dürfe, sagte sie. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Olaf Scholz sagte dem Abendblatt: "Die bisherige Rechtsprechung ist für viele Bürger schon wegen der hohen Abfindungszahlungen an Manager, die ihren Unternehmen schweren wirtschaftlichen Schaden zugefügt haben, nicht verstanden worden." Der Hamburger Arbeitsrechtler Christian Oberwetter fürchtet aber, dass sich nun eine unscharfe Rechtslage ergibt. So werde jetzt die Beschäftigungsdauer gegen den Diebstahl aufgerechnet. Damit stehe die Frage im Raum, wie viele Jahre Betriebszugehörigkeit ausreichten, um sich ein Vergehen erlauben zu können.
Die Gewerkschaft Ver.di, Linke und Grüne forderten einen besseren Kündigungsschutz. Es müsse festgeschrieben werden, dass bei einem Bagatellvergehen erst eine Abmahnung erfolgen muss, bevor gekündigt werden kann, sagte Ver.di-Vizechef Gerd Herzberg.