Wer an der Börse das Risiko liebte, griff nicht zu Aktien, sondern zu Zertifikaten, rechtlich Schuldverschreibungen um mehr Geld zu machen. Spätestens mit der Pleite von Lehman ist die Gefahr solcher Papiere offensichtlich, der Umsatz damit ist um ein Drittel eingebrochen. Doch Experten erwarten eine Trendwende.

Sie gelten als der Inbegriff des Börsenbooms. Zertifikate und Optionsscheine. Jetzt, da die Zeit des schnellen Geldes an den Aktienmärkten vorüber ist, erleben Derivate die schwerste Krise ihres Bestehens. Vergangenes Jahr sank der mit diesen oft spekulativen Bankprodukten erzielte Umsatz hierzulande um 34,8 Prozent. Das geht aus Zahlen hervor, die der Zertifikate-Marktführer Deutsche Bank nun veröffentlicht hat. Das Minus ist der bisher schärfste Rückschlag für die Derivate-Industrie, die den Geldhäusern in guten Tagen stattliche Zusatzgewinne bescherte.

„Der Lehman-Schock hat viele von Zertifikaten abgeschreckt“, sagt Daniel Bauer, Vorstand bei der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK). Nach der Pleite der Investmentbank waren strukturierte Produkte ins Gerede gekommen. Mancher Bankberater hatte Zertifikate des Wall-Street-Hauses als sicheres Investment empfohlen. Als Lehman dann Mitte September 2008 Insolvenz anmeldete, blieben die Anleger auf ihren wertlos gewordenen Zertifikaten sitzen. Vielen der Halter war nicht klar gewesen, dass sie ein Spekulationsprodukt erworben hatten.

Im Gegensatz zu Spareinlagen unterliegen Derivate – rechtlich gesehen Schuldverschreibungen – keinem gesetzlichen Ausfallschutz. Optisch folgt der Preis eines Derivates der Entwicklung des Basiswerts, also dem Index, der Aktie oder dem Termin-Kontrakt, auf den es sich bezieht. Das ist aber nur die halbe Wahrheit: Denn ob der Gegenwert des Zertifikats am Ende zurückerstattet wird, hängt von der Zahlungsfähigkeit des ausgebenden Instituts (Emittenten) ab. Im Börsenkrach kam erschwerend hinzu, dass auch Produkte gesunder Banken drastisch an Wert verloren, darunter Bonuszertifikate und andere „Strukturen“, die zur Risikoreduzierung eingesetzt wurden.

„Es ist viel Vertrauen zerstört. Das schlägt sich in den aktuellen Zahlen nieder“, sagt Anlegerschützer Bauer. Zertifikate sind seiner Meinung nach nicht generell abzulehnen, allerdings eignen sie sich nur für erfahrene Anleger, die sich der Risiken bewusst sind.

Besonders schwer hat es 2009 das Segment Discount-Zertifikate gebeutelt. Mit solchen Produkten machen Anleger auch dann Gewinn, wenn der Dax (oder ein anderer Basiswert) auf der Stelle tritt. Im Jahr 2009 gingen die in Deutschland mit diesen Derivaten erzielten Umsätze nach den Zahlen der Deutschen Bank um 38 Prozent zurück. Im Crash-Jahr 2008 hatte das Minus nur fünf Prozent betragen. In den Boomjahren 2004 bis 2007 hatte sich das mit „Discountern“ umgesetzte Handelsvolumen nahezu verdreifacht. Einen ähnlichen Einbruch erlebten andere Anlageprodukte, zum Beispiel Bonuszertifikate. „Vergangenes Jahr herrschten besonders widrige Bedingungen. Die extremen Schwankungen schreckten die Börsianer von neuen Engagements ab“, sagt Nicolai Tietze, von der Deutschen Bank.

Kaum rosiger sah es bei den besonders riskanten Hebelprodukten aus. Optionsscheine und Knock-outs können drei-, zehn- oder sogar 30-mal so stark steigen wie die zugrunde liegenden Basiswerte. Mit nichts ist der Traum vom schnellen Reichtum schneller zu erreichen als mit diesen Volles-Risiko-Papieren. Wenn es denn gut geht. Umgekehrt können Hebelprodukte sehr schnell als wertlos verfallen, wenn sich die Kurse in die „falsche“ Richtung bewegen. Im Jahr 2009 sanken die Umsätze im Segment um 30 Prozent, nach einem Rückgang um 22 Prozent im Vorjahr. Damit ist der Markt für Optionsscheine und Knock-outs auf den niedrigsten Stand seit 2005 zurückgefallen.

Freilich deutet viel darauf hin, dass die Derivate-Lust der Anleger neu erwacht. „Seit einigen Monaten werden die Vorteile der Strukturen wieder gesehen“, sagt Markus Jakubowski von der Société Générale. Das Jahr 2010 habe gut angefangen. Vor allem Hebelprodukte auf Rohstoffe seien gefragt. Tietze meint gar: „Für Derivate lässt sich kaum ein besseres Umfeld denken.“ In unentschiedenen, aber stabilen Märkten könnten die Produkte ihre Stärke ausspielen. Ohnehin erklärt sich ein Teil der Umsatzrückgänge des letzten Jahres aus den verminderten Kursen der Basiswerte, die sich auf die Zertifikate übertragen.

Trotz Krise ist die Gesamtzahl der Derivate 2009 nicht zurückgegangen, sondern gestiegen. Im Dezember hat sie einen Rekordstand von 375.460 erreicht. SdK-Mann Bauer kommt ebenfalls zur Einschätzung, dass die Risikobereitschaft wiederkehrt. Nach den Erfahrungen der Vergangenheit fordert er für die Zukunft mehr Schutz für die privaten Anleger: Vor allem müssten die Kostenstrukturen der Produkte transparenter gemacht und die Beraterhaftung verschärft werden.

Quelle: Welt Online