Über Jahrzehnte befand sich die Marktwirtschaft auf einem globalen Siegeszug. Jetzt bebt sie unter fundamentalen Erschütterungen. Von Liberalismus und dem freien Spiel der Märkte redet kaum noch jemand. Man vertraut auf die Kraft der öffentlichen Hand.

Hamburg. Ein schöner alter Witz ist neuerdings wieder im Umlauf, auch Bundeskanzlerin Angela Merkel - ehemals DDR-Bürgerin - soll ihn kürzlich in kleiner Runde erzählt haben: Was ist der Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus? Im Sozialismus werden die Unternehmen erst verstaatlicht und dann ruiniert.

Zum Lachen bleibt beim Blick auf die Wirtschaft dieser Tage wenig Zeit, denn Konjunktur hat vor allem eines: der Ruf nach dem starken Staat, der Unternehmen, Branchen und am Ende womöglich die Marktwirtschaft selbst vor dem Zusammenbruch retten möge. "Deutsche Politiker leisten sich ein wahres Wett-Retten", stellte Klaus Zimmermann fest, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).

Ökonomen, Verbände und Manager greifen die wahlkampfwirksamen Offerten aus Parteien und Parlamenten dankbar auf. Zuletzt forderte Matthias Wissmann, früher Bundesverkehrsminister und jetzt Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), staatliche Hilfen für seine angeschlagene Branche. Zwischen 20 und 40 Milliarden Euro hätte er gern an zinsgünstigen Krediten in Form eines EU-Programms für die europäischen Hersteller. Das Geld solle der Entwicklung umweltschonender Autos zugute kommen. Der VDA ist derselbe Verband, der sonst jederzeit beherzt gegen staatliche Eingriffe in die Technologien der Hersteller zu Felde zieht, etwa dann, wenn es um schärfere europäische Grenzwerte für den Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid geht.

Zuerst schützten die Staaten mit Großprogrammen und "Rettungsschirmen", mit Hunderten Milliarden Dollar, Euro oder Pfund an Sicherheiten die Finanzwirtschaft vor dem Zusammenbruch. Nun drängt die Frage in den Vordergrund, ob und wie den Unternehmen der Industrie und der Dienstleistungswirtschaft geholfen werden soll. Von der reinen Lehre einer Marktwirtschaft, die sich angeblich auch durch Krisen selbst reguliert und erneuert, ist zurzeit kaum mehr die Rede - zu mächtig sind die Schockwellen der drohenden Weltrezession. Die "Nachfragetheoretiker" unter den Ökonomen, die eine Ankurbelung von Konsum und Investitionen durch Staatshilfen fordern, haben in der Debatte derzeit klar die Oberhand. Der US-Ökonom Paul Krugman warf der Bundesregierung gar "Dummheit" vor, weil sie nach seiner Meinung zu wenig Geld in Konjunkturprogramme pumpe. Mehr Aufmerksamkeit als in dieser Woche hätte Krugman dafür kaum finden können: In Stockholm nahm er am Mittwoch den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften entgegen.

Die massiven staatlichen Stützungsprogramme für die Finanzwirtschaft stoßen bei Ökonomen durchweg auf Zustimmung. Schon der Zusammenbruch einer einzigen Großbank - der Fall der US-Investmentbank Lehman Brothers machte das im September deutlich - kann das gesamte Welt-Finanzsystem gefährden. Frisches Eigenkapital, vor allem aber staatliche Garantien werden gebraucht, um die tiefe Vertrauenskrise zwischen den Instituten zu überwinden.

Noch komplizierter wird die Debatte, wenn es um mögliche öffentliche Hilfen für einzelne Branchen oder gar für einzelne Unternehmen geht. Soll die Bundesregierung Opel mit einer staatlichen Bürgschaft beispringen, damit der Automobilhersteller bei einem denkbaren Untergang seines Mutterkonzerns General Motors (GM) nicht mitgerissen wird? Soll die Regierung den Automobilzulieferern helfen, die in diesen Wochen reihenweise Insolvenz anmelden? Welches Unternehmen, welche Branche drängt als nächstes auf einen staatlichen Rettungsschirm? Die Chemieindustrie? Die Fensterputzer? Die Hersteller von Seifenblasen? "Mit der reinen Lehre findet man in dieser besonderen Situation keine Antworten", sagt Henning Vöpel, Ökonom am Hamburgischen Weltwirtschafts-Institut (HWWI). "In erster Linie geht es jetzt darum, pragmatische Antworten zu finden. Wenn der Staat eingreift, muss das möglichst neutral für den Wettbewerb sein. Das lässt sich in der Automobilindustrie und in anderen Branchen zum Beispiel erreichen, indem der Staat die Unternehmen bei der Entwicklung von klimaschonenderen Technologien stärker unterstützt als bisher."

Opel allerdings wäre mit einer Aufstockung des Forschungsetats kaum geholfen. Sollte der amerikanische Mutterkonzern GM schon in den kommenden Wochen Insolvenz anmelden - was jeden Tag wahrscheinlicher wird - wäre auch die deutsche Traditionsmarke in ihrer Existenz bedroht. Selbst überzeugte Marktwirtschaftler tasten sich nun langsam an die Erkenntnis heran, dass bei Opel im schlimmsten Fall auch mit einer staatlichen Bürgschaft von einer Milliarde Euro nicht mehr viel getan wäre - und dass Opel womöglich erst den Anfang eines großen Dramas in der deutschen Automobilindustrie markiert: "Selbst als engagierter Ordnungspolitiker und Verfechter der Marktwirtschaft sage ich in diesem Fall, dass man Opel und in der Folge auch Zulieferer nicht einfach vor die Hunde gehen lassen kann", sagte dieser Tage Martin Kannegießer, Unternehmer und Präsident des Verbandes Gesamtmetall. Auch Bundespräsident Horst Köhler, früher Präsident des Internationalen Währungsfonds (IWF), argumentiert so: Es "grause" ihn der Gedanke, dass die deutsche Automobilindustrie unter Umständen mit hohen Beträgen an Steuergeld gerettet werden müsse, sagte er der "Süddeutschen Zeitung": "Aber nichts zu tun, ist die schlechtere Alternative."

In den Krisen des Kapitalismus hat staatliche Intervention immer wieder dazu beigetragen, neue marktwirtschaftliche Strukturen zu schaffen. Das gilt für den "New Deal", das Großprogramm von Präsident Franklin D. Roosevelt in den USA während der Wirtschaftskrise der 30er Jahre, das gilt aber auch für den Aufbau der sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland nach dem Krieg und nicht weniger für die wirtschaftliche Erneuerung in Ostdeutschland nach der deutschen Einheit.

Heute allerdings geht es um eine fulminante Krise einer voll entwickelten Marktwirtschaft. Welche Instrumente dagegen am besten helfen, weiß niemand. Klar ist: Für all das steht der Staat als neue "Supernanny", der Steuerzahler zahlt die Rechnung. Unklar ist hingegen, wie viel Markt von der Marktwirtschaft nach dieser Radikalkur übrig bleibt: "Es gibt nichts schönzureden", schrieb HWWI-Präsident Thomas Straubhaar kürzlich über den staatlichen "Rettungsschirm" für die Finanzwirtschaft: "Eine Verstaatlichung privater Risiken und die gigantische, letztlich durch den Steuerzahler finanzierte, mit der Gießkanne ausgegossene Staatshilfe wäre eine Bankrotterklärung für die Marktwirtschaft."