Für Finanzanalysten gehört es zu ihrem täglich Brot, umfangreiche Prognosen zu erstellen. Dieses Mal haben sie sich aber nicht mit Finanzdaten beschäftigt sondern ließen die Informationen zur WM in Südafrika durch ihre Computerprogramme laufen und gaben einen Tipp ab. Wahre Fußballfans aber zweifeln.

Deutschland rätselt um den ultimativen WM-Tipp. Wer wird Weltmeister? Im Büro oder am Stammtisch wird diese Frage heiß diskutiert. Doch egal, wie viele Meinungen man auch einholt, es wird kaum eine über jeden Zweifel erhabene Analyse geben. Selbst Experten wie Udo Lattek, Franz Beckenbauer oder Günter Netzer sind keine echte Hilfe. Denn erstens kennt halb Deutschland ihre Prognosen, und zweitens vertrauen auch sie meistens nur auf ihr Bauchgefühl.

Die wahren Experten finden sich an einem Ort, an denen man sie eigentlich gar nicht vermutet. Beinahe täglich veröffentlichen derzeit Banken, Fondsgesellschaften oder andere Finanzdienstleister umfangreiche und zum Teil sehr aufwendige Analysen über die Chancen der 32 Mannschaften.

Als Wirtschaftsredakteure glauben wir natürlich auch an die Macht der Statistik. Und so haben wir uns die professionellsten Studien angeschaut. Schließlich steht auch in der Redaktion von WELT ONLINE ein WM-Tippspiel an. Und da kann es ja nicht schaden, die Prognosen der wahren Fachleute zu kennen.

Da wäre als Erstes die Deka-Studie. Die zweigrößte deutsche Fondsgesellschaft hat hierzulande die umfassendste Analyse erstellt. „Cheftrainer“ Ulrich Kater – im normalen Leben Deka-Chefvolkswirt – ist leider nicht zu sprechen. Er weilt bereits im Trainingslager. Wir werden an Holger Bahr weiterverwiesen, laut Impressum ist er so etwas wie der Mittelfeldregisseur bei der Deka. Doch ist er tatsächlich Fachmann?

Ein Test soll es klären: Welcher Spieler hat Deutschland bei der WM 1994 aus dem Turnier geschossen? Seine Antwort überzeugt: „Der Bulgare Yordan Letchkov hat den kleinen Thomas Hässler ganz alt aussehen lassen und so zum 2:1 eingeköpft.“ Bahr ist der richtige Ansprechpartner. Um es vorwegzunehmen: Die Deka sagt Brasilien als Weltmeister voraus.

Das ist, wie Bahr selbst zugibt, kein sonderlich verwegener Tipp. Doch er ist das Ergebnis eines Statistik-Modells, das Faktoren wie WM-Historie oder Fifa-Weltrangliste berücksichtigt. Der Computer wird mit diesen Daten gefüttert und lässt die anstehenden Partien Tausende Male durchspielen, sodass am Ende eine Wahrscheinlichkeit des Spielausganges ermittelt wird. Demnach gewinnt Brasilien den Titel mit einer Wahrscheinlichkeit von 24 Prozent. Ärgster Konkurrent sind die Spanier. Ihnen traut das Analyse-Modell eine 22-Prozent-Chance auf den Titel zu. Deutschland kommt gerade einmal auf einen Wert von 5,7 Prozent. Spinnt der Computer?

Sicher nicht. Das Deka-Team hat gründlich recherchiert und festgestellt, dass ohnehin nur eine südamerikanische Mannschaft in diesem Jahr den Weltmeister stellen kann. Es gebe ein Geheimabkommen, wonach europäische und südamerikanische Teams immer im Wechsel den Titel holen, erklärt Bahr. „Diese Absprache wurde im Jahr 1962 getroffen und seitdem von beiden Seiten immer eingehalten.“

Auf die Frage, was er denn von den Ergebnissen der Kollegen hält, antwortet Bahr nur süffisant: „Die Tatsache, dass beispielsweise JP Morgan die Engländer zum neuen Weltmeister ausruft, sagt eigentlich schon alles. Doch richtig absurd wird das Modell dadurch, dass sie sich im Finale ausgerechnet im Elfmeterschießen durchsetzen.“

Wir ignorieren die Kritik natürlich, da wir alle Studien mit der gleichen Objektivität betrachten. Und beim genauen Hinschauen wird deutlich, dass die Londoner JP-Morgan-Analysten, Matthew Burgess und Marco Dion, einen unglaublich großen Aufwand betrieben haben. Auch sie haben einen statistischen Ansatz gewählt und lassen insgesamt zwölf Parameter in ihre Prognose einfließen.

Neben klassischen Daten wie historischen Ergebnissen wird beispielsweise die Anfälligkeit der einzelnen Teams für Überraschungen bewertet: Welche Mannschaft ist in ihren Ergebnissen eher volatil und welche nicht? Außerdem unterziehen die Investmentbank-Volkswirte den Fitnesszustand aller Mannschaften einer genauen Analyse.

Doch dann passiert es: Der allerletzte Parameter gibt den Ausschlag. Eine sogenannte Penalty-Shoot-out-Metric sieht das Team von England vorn. Dem Fußball-Laien sei gesagt: Die Engländer haben bei einer Welt- oder Europameisterschaft noch nie ein Elfmeterschießen gewonnen. Ausgerechnet in dieser Disziplin bekommt die Mannschaft jedoch von JP Morgen die höchste Punktzahl zugesprochen. Ein Schuft, wer denkt, da habe warmes englisches Bier oder der Patriotismus der Analysten die Urteilsfähigkeit gemindert.

Die wohl prominenteste Studie kommt ebenfalls von einem Engländer, auch er arbeitet bei einer amerikanischen Investmentbank. Jim O’Neill, Chefökonom von Goldman Sachs, ist wohl der fußballverrückteste Wirtschaftsanalyst auf der Welt. Er ist leidenschaftlicher Fan von Manchester United, derzeit versucht er sogar, den Klub zusammen mit Fans und anderen Investoren zu übernehmen.

Dafür setzt er auch sein Privatvermögen ein. O’Neills WM-Studie klingt plausibel. Bis zum Viertelfinale. Bei der Runde der letzten acht liegt der Ökonom ganz offensichtlich falsch. Deutschland fliegt demnach im Viertelfinale gegen Argentinien raus, weil das deutsche Team Superstar und Weltfußballer Lionel Messi nicht in Griff bekommen kann, glaubt O’Neill. So ein Unfug.

Einen Weltmeistertipp will O’Neill nicht abgeben, er nennt nur die vier Halbfinalteilnehmer. Aber die Goldman-Strategen wären keine echten Wirtschaftswissenschaftler, wenn nicht auch sie mithilfe der Statistik Wahrscheinlichkeiten dafür errechnet hätten, wer den Pokal holt. Dazu haben sie einfach den Durchschnitt der Wettquoten verschiedener Anbieter gebildet und mit dem Ranking der Teams der Fifa-Weltrangliste kombiniert. Deutlicher Favorit bei dem Turnier in Südafrika wäre demnach Brasilien vor Spanien.

Die Finanzanalysten dieser Welt sind sich weitgehend einig. Von Ausnahmen wie den eigenwilligen JP-Morgan-Strategen abgesehen, prognostizieren alle ein Finale Brasilien gegen Spanien, welches die Südamerikaner dann gewinnen werden. Die Hoffnung auf den ultimativen Geheimtipp hat sich damit nicht erfüllt. Denn zum gleichen Ergebnis wäre man vermutlich auch gekommen, wenn man Udo Lattek gefragt hätte.

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Quelle: Welt Online