Leiche des vermissten Schotten in der HafenCity gefunden – die Umstände seines Todes bleiben rätselhaft. Über eine verzweifelte Suche und späte Gewissheit
Geneviève Wood
und André Zand-Vakili
Die Hoffnung erlischt mit dem Anruf einer Passantin. Sie wählt gegen 6.30 Uhr den Notruf, sagt, sie habe soeben eine Leiche entdeckt, mitten in der HafenCity auf der Elbe, in der Nähe der Uni. Die Feuerwehr rückt sofort aus. Der Verdacht liegt schon in der Luft, als die Männer den Körper aus dem Wasser ziehen. Ein Blick in die Jackentasche des Toten bringt Gewissheit. Dort finden sie einen schottischen Führerschein mit dem Bild des jungen Mannes.
Liam Colgan ist tot. Was die Angehörigen bis zuletzt nicht glauben konnten, was sie mit einer einzigartigen Suchaktion widerlegen wollten, steht an diesem Montag doch offensichtlich fest. Der Leichnam wird gegen 7 Uhr in das rechtsmedizinische Institut gebracht. Um 11 Uhr bestätigt die britische Hilfsorganisation „Lucie Blackman Trust“, die die Angehörigen vertritt, den Verlust. „Die Gedanken sind nun bei seiner Familie.“
Es gibt ein Foto, das den Verstorbenen mit seinem Bruder Eamonn zeigt. Sie lachen verschmitzt, herausgeputzt in Anzügen; zwei herzliche Männer, jung und lebenshungrig, bald auf dem Weg nach Hamburg – für einen legendären Abend, wie sie hofften. Die Tragödie, die sich dann abspielte, bleibt trotz des Leichenfundes noch rätselhaft. Die Geschichte von Liam Colgan ist aber auch eine der Anteilnahme, der Hoffnung und des Mutes, alles für einen geliebten Menschen zu unternehmen.
Rückblick: Als das Foto in den Anzügen entsteht, rückt die Hochzeit von Eamonn Colgan (33), Polizist aus dem schottischen Dundee, schon näher. Sein vier Jahre jüngerer Bruder war ein Kümmerer und Familienmensch, sagt Eamonn, der geborene „best man“ – Trauzeuge und Chefplaner dafür, es vor der Trauung im März noch einmal richtig krachen zu lassen. Hamburg scheint perfekt. Liam Colgan bucht Flugtickets, vom Flughafen Edinburgh aus, für die Brüder und 16 Freunde.
Die Gruppe steigt im sonnengelben „A+O Hostel“ an der Spaldingstraße ab, einfache Zimmer und große Bar. Am 9. Februar beginnen sie die Feierlichkeiten in der Privatbrauerei Gröninger. Gegen 18 Uhr fließen dort die ersten Biere, dann geht es weiter in den „Kuhstall“ auf dem Kiez. Laute Musik zum Mitgrölen. Die Gruppe will viel von der legendären Reeperbahn mitnehmen, steuert noch mehrere weitere Kneipen an, zuletzt den Hamborger Veermaster, ganz am westlichen Ende des Kiezes.
Um 1.30 Uhr ist der Alkoholpegel hoch, Liam Colgan trägt einen Strohhut, zieht seine braune Lederjacke an. Die Schotten wollen den Laden verlassen. „Er ist kurz vor uns raus“, sagt Eamonn Colgan später. Aber als sie selbst in dicken Jacken gegen die Kälte auf dem Bordstein stehen, ist da keine Spur mehr von Liam Colgan. „Wir wissen nicht, wie wir ihn so schnell aus den Augen verlieren konnten.“
Der 29-Jährige muss bei eisigen Temperaturen die gesamte Länge der Reeperbahn wieder hinaufgelaufen und in Richtung Innenstadt unterwegs gewesen sein, es sind mindestens 20 Minuten Fußweg. Eine Kamera am Verlagsgebäude von Gruner + Jahr macht die letzten Fotos von Liam Colgan, wie er in Richtung der Michelwiese läuft. Ein Zeuge gibt später an, der Schotte sei mehrfach hingefallen. Aber wo wollte Liam Colgan hin? Und warum hatte er sich überhaupt von der Gruppe gelöst? Der 29-Jährige war am frühen Morgen des 10. Februar betrunken, aber galt auch als verlässlich, organisationsstark.
Bruder trieb die Suche immer wieder selbst voran
Um 8.30 Uhr am nächsten Morgen meldet Eamonn Colgan seinen Bruder in der Wache 11 am Steindamm als vermisst. Am Tag darauf fragt Eamonn Colgan erneut im Revier nach. Dann fliegt er zunächst nach Hause zu seiner Familie, die um das Leben ihres Onkels, Sohnes, Enkels bangt. Im Flugzeug zu sitzen fühlt sich für ihn elend an, so, als lasse er seinen Bruder im Stich, wie Eamonn Colgan sagt.
Bereits wenige Tage später steht er erneut in Hamburg, blass und müde, große braune Augen blicken in die Gesichter von deutschen und britischen Journalisten. „Wir wollen mehr erfahren, die Polizei aber auch nicht von ihrer Arbeit abhalten“, sagt er, seine Verlobte Susan und zwei Freunde begleiten ihn. Eamonn Colgan ruft alle Hamburger auf, wachsam zu sein. Man solle auch in Schuppen und Gärten nachsehen. Vielleicht schlafe Liam dort.
Bei der Polizei wird schnell als wahrscheinliches Szenario gesehen, dass Liam Colgan in die Elbe gefallen und ertrunken ist. Anders als im Fall des vermissten HSV-Managers Timo Kraus (siehe Artikel rechts) gibt es aber keinen konkreten Ort, den Taucher absuchen könnten. An Land wird jedoch jedem der bis heute eintreffenden 100 Hinweise und 70 Spuren bis in das letzte Detail nachgegangen, schnell kommen Hunderte Arbeitsstunden zusammen.
Seine Familie pflastert die Stadt mit Vermisstenplakaten, vom gesamten Bereich der Reeperbahn bis zur Obdachlosenunterkunft im Gewerbegebiet von Hammerbrook. Hamburger, die weder Liam noch Eamonn zuvor je gesehen hatten, helfen täglich bei der Suche. „Ich kann Ihnen nie jemals genug danken“, sagt Eamonn Calgon damals zu der Anteilnahme für seine Familie.
Immer wieder melden sich plötzlich Zeugen, die glauben, den Vermissten gesehen zu haben. Eine Woche nach dem Verschwinden erzählen Verkäufer einer Bäckerei und eines Tabakgeschäfts in Buxtehude von einem offensichtlich verwirrten, Englisch sprechenden Mann. Ein Polizeihund nimmt vor Ort eine Fährte auf, kann die Spur jedoch nicht weiter verfolgen. Auch die Überwachungsbilder aus der Bahn geben keinen Hinweis darauf, dass Liam Colgan tatsächlich noch in eine Bahn in Richtung des Umlands gestiegen ist. Selbst Wünschelrutengänger und Hellseher melden sich bei den Ermittlern, können aber kaum helfen. Die Spur des vermissten Schotten wird kalt.
In britischen Medien sagt Eamonn Colgan im März, dass seine Familie es für möglich halte, dass Liam Colgan in der Nacht seines Verschwindens einen Gedächtnisverlust erlitt. Vielleicht wisse er gar nicht, dass er vermisst werde. Auf Facebook hat sich eine Gruppe mit 24.000 Mitgliedern der Suche verschrieben. Sie wenden sich an die Post, um eine weitere Suchaktion zu starten – in seiner schottischen Heimat war Liam Colgan ebenfalls Postbeamter.
Kurz darauf werden 300.000 Flugblätter mit der Tagespost von Poppenbüttel bis Blankenese verteilt. In Schottland findet die Aktion „Einer für Liam“ statt, für jedes bestellte Bier in den Pubs wird für die Suche gespendet. „Wenn wir Liam finden, feiern wir alle gemeinsam eine große Party“, hat Eamonn Colgan in einem Interview versprochen.
Offenbar handelt es sich um einen tragischen Unfall
Dass es kein Wiedersehen geben wird, erfahren die Angehörigen am Montagmorgen am Telefon. Sie wollen sich in den Stunden der Trauer nicht öffentlich äußern. Die Rechtsmediziner finden keine Hinweise darauf, dass der 29-Jährige einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte. Ob der Körper noch obduziert wird, ist deshalb unklar.
Der Tod von Liam Colgan war somit sehr wahrscheinlich ein tragischer Unfall. Die Ermittlungen der Mordkommission, die den Fall erst kürzlich übernommen hatte, dauern an. Es werde bald entschieden, wann die Leiche „freigegeben“ werde, heißt es. Damit die Angehörigen die Leiche in ihre Heimat überführen können.