Ein Buch erzählt vom Aufstieg und Fall des SPD-Kanzlerkandidaten. Lars Haider hat es gelesen. Und auch eine Abrechnung mit Hamburgs ehemaligem Bürgermeister gefunden
Olaf Scholz will das Buch nicht lesen, hat er gesagt. Das ist erstaunlich, weil es in „dem Buch“ um die Partei geht, deren kommissarischer Vorsitzender er ist. Und um ihn selbst. In „Die SchulzStory“, geschrieben von „Spiegel“-Reporter Markus Feldenkirchen, steckt auch eine kleine, an nachgesagten Gehässigkeiten nicht arme Scholz-Story.
Schwer vorstellbar, dass Hamburgs neuer Altbürgermeister die entsprechenden Passagen nicht kennt und sich nicht über sie ärgert. Denn sie können mit vielen anderen Passagen, die in diesem bemerkenswerten Buch stehen, ein Bild ergeben, das Olaf Scholz mit Sicherheit nicht befeuern will: das Bild von Martin Schulz als Opfer.
So oder so ist „Die Schulz-Story“ ein Ärgernis für Scholz, weil nicht nur er auf den 314 Seiten schlecht wegkommt, sondern auch die Partei, die er zusammen mit Andrea Nahles erneuern will. Für Markus Feldenkirchen ist das Projekt dagegen ein Glücksfall. Wahrscheinlich hat nie zuvor ein deutscher Spitzenpolitiker einen Journalisten für eine so lange Zeit so an sich herangelassen.
So viel Nähe zwischen Politik und Medien ist auch gefährlich
Mindestens 50-mal haben sich die beiden während des Bundestagswahlkampfs im vergangenen Jahr und danach getroffen. Und wenn sie sich nicht trafen, haben sie telefoniert. Wer das Buch liest, bekommt den Eindruck, dass Martin Schulz nur selten ins Bett gegangen ist, ohne sich bei Feldenkirchen gemeldet zu haben. Der Reporter war überall dabei, auf Autofahrten, bei Abendessen, Sitzungen, ja, sogar auf der Terrasse von Schulz’ Wohnhaus in Würselen.
So viel Nähe zwischen Politik und Medien ist einzigartig – und auch gefährlich. Kann man sich als Autor davon freimachen, Verständnis, gar Mitleid mit jemandem zu entwickeln, den man so eng begleitet wie Feldenkirchen Schulz? Muss eine Langzeitreportage, dieses laut Untertitel „Jahr zwischen Höhenflug und Absturz“, nicht zwangsläufig dazu führen, dass man die Welt, das heißt vor allem die SPD, mit den Augen desjenigen sieht, den man beschreibt?
Die Frage ist rhetorisch, und deshalb kann man die „Die Schulz-Story“ einerseits als großartig geschriebenen Einblick in das Innerste einer Partei, der deutschen Politik und der Macht an sich lesen. Andererseits lässt das Buch auch den Eindruck eines Kanzlerkandidaten entstehen, der ein Opfer war: Opfer der schlechten Wahlkampfkampagne seiner Partei, Opfer verlorener Landtagswahlen, Opfer von falschen Beratern.
Und Opfer von Olaf Scholz und Andrea Nahles. Beide kommen bei Feldenkirchen so gut wie nicht selbst zu Wort, beide sind offensichtlich mit den geschilderten Vorwürfen nach Abschluss des Recherchejahres nicht konfrontiert worden. Und doch sind sie gegenwärtig, und doch entsteht die kleine Scholz-Story in der großen Schulz-Story.
Das beginnt schon auf Seite 26. Es ist Ende Januar 2017, Sigmar Gabriel hat Martin Schulz gerade mitgeteilt, dass er für ihn, seinen engen Freund!, auf die Kanzlerkandidatur und den SPD-Vorsitz verzichtet. Im Buch heißt es dazu:
Kurz bevor die Bombe platzt, redet Gabriel im Willy-Brandt-Haus mit seinen beiden Stellvertretern Hannelore Kraft und Olaf Scholz. Während sich Kraft, die öffentlich für Gabriel als Kandidaten geworben hatte, sofort auf die neue Situation einlässt, reagiert Scholz sichtbar verstimmt. Er müsse noch einen Tag nachdenken, ob er die Rochade mittragen könne. Seit geraumer Zeit existieren an der Spitze der SPD zwei Lager: der Hamburger Bürgermeister Scholz und Arbeitsministerin Andrea Nahles auf der einen Seite, Gabriel und Schulz auf deranderen. Inhaltlich trennt die beiden Lager herzlich wenig, doch sie konkurrieren um dieselben Posten und können sich nicht sonderlich gut riechen. Scholz und Nahles wollten verhindern, dass Gabriel und Schulz die Aufgabenverteilung unter sich ausmachen. (...) Nahles und er fühlen sich ausgetrickst.
Was sich im Nachhinein so selbstverständlich liest, weil heute Nahles Fraktionsvorsitzende und Scholz Vizekanzler ist, war Anfang 2017 eine für viele überraschende Erkenntnis. „Die Andrea und ich verstehen uns schon sehr lange sehr gut“, hat Scholz dazu gesagt, nur gewusst hätten das eben wenige.
Aber ob sie deswegen zu diesem Zeitpunkt unbedingt den populären Schulz als Kanzlerkandidaten verhindern wollten? Sigmar Gabriel hat dazu in einem Abendblatt-Interview erklärt: „Es gibt zwei Personen, mit denen ich intensiv über die Frage geredet habe, wer Kanzlerkandidat werden soll: Hannelore Kraft und Olaf Scholz. Niemand anders ist da so eingebunden gewesen wie die beiden. Ohne sie oder gegen sie hätte ich das niemals getan.“ Scholz selbst hat sich zur Kür des Kanzlerkandidaten nie geäußert, auch zu eigenen Ambitionen nicht. Das tun jetzt, wieder im Nachhin-ein, Feldenkirchen und Schulz, wenn sie folgende Geschichte vom 22. September erzählen, zwei Tage vor der Wahl:
Am Morgen hat er (gemeint ist Martin Schulz, d. Red.) mit einem gut vernetzten Journalisten gesprochen, der ihm erzählte, was Nahles und Scholz angeblich gegen ihn im Schilde führten. Scholz’ emsige Öffentlichkeitsarbeiter würden stets nur eine Parole verbreiten, die klar gegen ihn, den Kandidaten, gerichtet sei. „Wir haben es dreimal mit den Beliebtesten versucht. Man muss jetzt auch mal auf Kompetenz setzen.“ Die Chiffre für Kompetenz ist nach dieser Erzählung selbstverständlich Scholz selbst. Zudem bereite Scholz einen Ideenwettbewerb vor, an dessen Ende die Wahl eines neuen Parteivorsitzenden stehen solle: Olaf Scholz. „Da kannst du doch dran fühlen“, sagt Schulz, der glaubt, dass Scholz ihn absägen will. „Gleichzeitig hab ich auch ’nen Ideenwettbewerb: Wir machen eine Basisabstimmung über den Parteivorsitz, und damit vernichte ich seine Karriere. Definitiv!“ (...) „Was es für Leute gibt“, sagt Schulz und schüttelt den Kopf. „Die zinken gerade alle die Karten. Scholz, Nahles, die sind alle unterwegs.“ (...) Eine Frechheit sei das. „Aber der Olaf hat keine Truppen, der überschätzt sich.“ (...) „Die Erzählung, ich allein habe die Wahlniederlage zu verantworten, mache ich nicht mit.“
Schuld haben die anderen, auch wenn es zu diesem Zeitpunkt längst nicht nur Scholz und Nahles sind, die an der Eignung Schulz’ zweifeln. Übrigens so, wie er selbst Anfang 2017 daran gezweifelt hat. Im Buch heißt es dazu von Schulz: „Dann stell ich mir die Frage: Schaff ich das? Bin ich dafür tough genug? Das geht mir im Kopp rum.“
Die Antwort gibt es am 24. September, dem Abend der Bundestagswahl. Nach den ersten Prognosen tagt der engste Führungszirkel der SPD im Willy-Brandt-Haus: „Wir wollen den Parteivorsitzenden Martin Schulz“, erklärt der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil. Auch andere am Tisch sprechen sich für ihn aus. Olaf Scholz signalisiert hingegen Skepsis, so beschreiben es mehrere Teilnehmer später. (...) „Olaf, ich weiß, dass es zwischen dir und mir unterschiedliche Auffassungen gibt“, sagt Schulz in der Runde. „Ich weiß auch, dass du gegen meine Kandidatur warst.“
War das so? War es kein Zufall, dass Olaf Scholz fehlte, als Martin Schulz kurz nach den ersten Hochrechnungen die Niederlage der SPD im Willy-Brandt-Haus vor den TV-Kameras kommentierte und den Gang seiner Partei in die Opposition ankündigte? Tatsächlich hat der damalige Hamburger Bürgermeister noch Wochen später über die erneute Kandidatur von Martin Schulz als Parteivorsitzender gesagt: „Unsere Regelungen sehen vor, dass Kandidaturen rechtzeitig angekündigt werden müssen. Für den Parteivorsitz kandidiert allein Martin Schulz, und er wird mit einem überzeugenden Ergebnis gewählt werden.“
Das stimmte. Auf dem Parteitag im Dezember erhielt Martin Schulz 82 Prozent. Im Buch heißt es: „Die 82 Prozent waren ein Stück Trost“, sagt Schulz bei unserem Treffen in Köln. Sie hätten ihm gezeigt, dass der größte Teil der SPD-Mitglieder die Leistung sehe, die er im zurückliegenden Jahr gebracht habe. „Meine Defizite. Aber auch meine Stärken.“ Er sucht jetzt nach einem Foto, das ihm seine Frau kurz nach seiner Wiederwahl geschickt hatte. Es zeigt den Moment, als Schulz der obligatorische Blumenstrauß für die Wahl zum Vorsitzenden überreicht wird. Es zeigt aber vor allem die versteinerte Miene von Olaf Scholz, der mit zusammengepressten Lippen ins Leere schaut, als habe ihn gerade eine Schocknachricht erreicht. Inge Schulz hat die Szene zu Hause vom TV-Bildschirm abfotografiert. Scholz erhielt auf diesem Parteitag mit 59 Prozent das schlechteste Wahlergebnis aller stellvertretenden Parteivorsitzenden. Als Schulz bei der Verkündung dieser Wahlschlappe neben Scholz saß,tat er ihm leid. Er konnte nachempfinden, was in seinem Rivalen vorging, dieScham und die Schmach. „Wie kann der dir leid tun?“, fragte ihn jemand, dem er später von diesem Moment erzählte und der ihm in Erinnerung rief, was Scholz alles gegen ihn unternommen hat. Schulz zuckte die Schultern. Das sei eben so. Da werde er sich auch nicht mehr ändern.
Der böse Scholz, der liebe Schulz? Scholz weiß, dass ihm die Herzen seiner eigenen Parteifreunde nicht so zufliegen, wie sie es bei Martin Schulz getan haben. Im kleinen Kreis erzählt er, wie es damals in Hamburg war, als die Partei in einem so jämmerlichen Zustand war, dass sie geradezu nach einem wie ihm gerufen habe. Wiederholt sich Geschichte doch? Stört es Scholz, dass seine SPD ihm so wenig Liebe entgegenbringt?
Er sagt dazu im Abendblatt-Interview, kurz nachdem er seinen Wechsel nach Berlin offiziell bekannt gegeben hat: „Ich bin kommissarisch Vorsitzender der Partei. Die SPD hat mich gebeten, als Finanzminister und Vizekanzler ins Bundeskabinett zu gehen. Über einen Mangel an Zuwendung kann ich nicht klagen.“
Es sollte das Protokoll des Weges ins Kanzleramt werden
Anders als Martin Schulz. Nach den geglückten Koalitionsverhandlungen denkt er, wenigstens Außenminister zu werden, und telefoniert eines der letzten Male mit Buch-Autor Markus Feldenkirchen. Der schreibt: Dann stockt unser Telefonat, Sekunden der Stille. „Ich muss im Moment mal ...“, sagt Schulz und bricht ab. „Ich krieg da gleich ’nen Anruf rein. Ich melde mich gleich noch mal.“ Der Anruf, den er da reinkriegt, wird sein politisches Ende besiegeln. Zwei Kollegen aus der Parteiführung, die seinen Plan, Außenminister zu werden, zwei Tage zuvor noch abgesegnet haben, teilen ihm an diesem Freitagvormittag mit, dass man die Stimmung an der Basis wohl falsch eingeschätzt habe. (...) Schulz glaubt, verstanden zu haben. Diejenigen, die ihn einst zum Heiland erkoren hatten, wollen ihn nun vom Hof jagen. Und seine Kollegen aus der Parteiführung ducken sich weg, statt sich vor ihn zu stellen. So empfindet er das. „Jetzt ist Schluss“, sagt sich Schulz.
Damit geht das Buch zu Ende, und anders als am Anfang werden Nahles und Scholz nicht mehr mit Namen genannt. Sie sind jetzt „zwei Kollegen aus der Parteiführung“. Und bleiben die Schurken in einem „persönlichen und politischen Drama“, das doch in den ursprünglichen Planungen des Protagonisten eigentlich nur einen Helden haben sollte: nämlich Martin Schulz. Warum sollte ein Kanzlerkandidat einen Journalisten so nah an sich heranlassen, wenn nicht in der Hoffnung, „dass sein Weg ins Kanzleramt protokolliert würde“? Den Gedanken, schreibt Feldenkirchen, „fand Schulz gewiss auch reizvoll“.
Geworden ist daraus ein Buch, dessen Autor zum Journalisten des Jahres 2017 gewählt worden ist. Und das Olaf Scholz nicht lesen will. Was andere aber nicht davon abschrecken sollte. Denn Martin Schulz hat in einem Punkt wirklich recht: Seine Story verschlingt man an zwei Abenden ...