Der Klinker ist nicht nur der Hamburger Baustoff. Überall in der Welt spielt der Ziegel eine entscheidende Rolle. Ein neuer Bildband zeigt aktuelle Meisterwerke
Hamburger müssen jetzt ganz tapfer sein. Da hat der Taschen-Verlag, bekannt für seine großformatigen wie aufwendigen Bücher, einen Doppelband mit 100 zeitgenössischen Bauten aus Backstein („Brick Buildings“) veröffentlicht – und die Hansestadt ist nicht ein einziges Mal vertreten. Der Autor Philip Jodidio ist um die ganze Welt gereist, in Seoul, Barcelona und Herford, in Rio, Melbourne und Lüneburg fündig geworden. Für eine Weltstadt, die sich als Metropole des Backsteins versteht und es mit ihrer Klinkerarchitektur der Kontorhäuser, der Wohnstädte und der Speicherstadt sogar ins Weltkulturerbe geschafft hat, eine bittere Bewertung.
Aber keine ganz falsche – denn in den vergangenen Jahren sind eben nur wenige Backsteinbauten entstanden, die sich in die Seele der Stadt gebrannt haben – das Hanseviertel (1978–1980) oder das Steigenberger Hotel auf der Fleetinsel (1991/92), jeweils von Gerkan, Marg und Partner, sind schon einige Jahrzehnte alt. Und die Elbphilharmonie, die auf den alten Kaispeicher A von 1963 von Werner Kallmorgen die Moderne gepflanzt hat, ist zu jung – und eben vor allem ein Glasbau. Neue Ziegel haben die Architekten Herzog/de Meuron auf dem Boden der Plaza verlegen lassen, sie sind in ihrer Farbe und sogar in ihren Fehlern dem Kaispeicher nachempfunden.
Backstein in Hamburg ist vor allem Historie: Die Speicherstadt, die modernen Wohnquartiere von Fritz Schumacher und Gustav Oelsner. Und natürlich die Kontorhäuser: der Sprinkenhof, der Meßberghof, der Mohlenhof, der Montanhof und das Chilehaus. Der Backstein galt – mit einigen modischen Unterbrechungen – als Tausendsassa unter den Materialien, der vielfältige Bauten und Stile stofflich zusammenführt.
Und, damit auch das gleich geklärt ist: Der Backstein ist kein Hamburger. „Weil normale Ziegel klein sind und sich damit spezifische Bauformen leicht herstellen lassen, hat sich der Backstein als total anpassbar an die unterschiedlichen Formen zeitgenössischer Architektur erwiesen, ermöglicht aber auch Bezüge zur Vergangenheit fast jeden Landes und jeder Kultur“, schreibt Jodidio.
Der Backstein ist ein weltweiter Klassiker, als luftgetrockneter Lehmziegel ist er seit Jahrtausenden bekannt und in der Bibel schon mit dem Turmbau zu Babel belegt. Von der Chinesischen Mauer über die Marienburg, von Angkor in Kambodscha bis zum Kreml trutzt der Backstein.
Was man daraus heute abseits der Klotzarchitektur formen kann, darf der Leser bei Jodidio bestaunen – zum Beispiel das Kulturzentrum „De Klinker“ im niederländischen Winschoten, das mit seinen abgerundeten Ecken, dem vertikalen Mauerwerk und Überständen sowie dem orangen Farbton alle Vorurteile gegen den Baustoff mit Leichtigkeit wegwischt. Das „Haus der Erinnerung“ in Mailand besticht mit Ziegeln, die in unterschiedlichen Farbtönen, Pixeln gleich, ganze Bilder auf die Fassade zaubern. Langeweile war gestern. Auch in Deutschland wurde der Autor fündig: Das Neue Museum etwa, das David Chipperfield auf der Museumsinsel in Berlin wiederauferstehen ließ und welches das Neue und das Alte, etwa die Backsteinwände mit ihren Kriegsschäden, verbindet. Oder in Herford, wo die Kleinstadt von einem Bilbao-Effekt im Ravensberger Hügelland träumte: Dort hat Frank O. Gehry, der Schöpfer des Guggenheim-Museums in der baskischen Stadt, sich selbst in Backstein zitiert, für den Stararchitekten ein ungewöhnlicher Baustoff. Das Marta Herford verschlang 29 Millionen Euro im Bau und beherbergt nun ein Museum für zeitgenössische Kunst Design und Architektur.
Überhaupt gibt es in der Provinz faszinierende Bauten – der Neubau der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Rottenburg gehört dazu wie das Ravensburger Kunstmuseum. Hier bewies das Stuttgarter Büro LRO, wie zeitlos und modern Backstein zugleich sein kann. Und Jörg Springer schuf eine Erweiterung des Neuen Museums, die sich perfekt in die Backsteinstadt Lüneburg einfügt.
Auch Herzog/de Meuron finden in dem Taschen-Buch einen Platz, allerdings nicht mit der Elbphilharmonie, sondern mit der Vitra Schaudepot in Weil am Rhein, dem Museum Unterlinden in Colmar und der Londoner Tate Gallery of Modern Art. Hier haben die Schweizer ihren Erfolgsbau (zuvor verwandelten sie ein Kraftwerk an der Themse in eines der größten modernen Museen) um das backsteinerne Switch House erweitert. London, eine Stadt aus Backstein, ist gleich mehrmals in „Bricks“ vertreten, so auch mit dem spektakulären Studentenzentrum der London School of Economics. Weil die Steine in einem Lochmuster angebracht wurden, leuchtet der Bau „wie eine orientalische Laterne“, sagen die Architekten Sheila O’Donnell und John Tuomey.
Faszinierend ist, wie weltweit Architekten mit dem Backstein bauen, der überall vertraut aussieht, weil er überall produziert wird. Und der doch, abhängig von der mineralischen Zusammensetzung des Tons, stets variiert. Im iranischen Hamadan, einer der ältesten Städte der Welt, ist ein Geschäftshaus mit Klinkersteinen entstanden, die vor Ort produziert und traditionsgemäß gemauert wurden – der Bau wäre überall ein Hingucker. Und in Da Nang City in Vietnam entwarf das Büro Tropical Space ein sogenanntes Termitenhaus, ein Backsteinbau mit beliebig angeordneten Löchern, der auf das tropische Klima abgestimmt ist. In China entwarf Zhang Lei die „Brick Houses“, die das Erbe des chinesischen Hofhauses aufgreifen und zu einem Preis von 80 (!) Euro pro Quadratmeter realisiert wurden.
All diese Bauten sind eine Liebeserklärung an den Backstein, der so preiswert wie nachhaltig, so modern wie zeitlos, der so heimatlich wie weltgewandt, so wetterbeständig und klimafreundlich ist. „Wissen Sie, was ein Backstein ist? Er ist unbedeutend und kostet elf Cent, er ist alltäglich und wertlos, aber er besitzt eine besondere Eigenschaft. Geben Sie mir diesen Backstein, und er wird sein Gewicht in Gold wert sein“, sagte einst der amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright. Vielleicht ist das sein eigentliches Geheimnis.
Bricks. 100 zeitgenössische Bauten aus Backstein. Taschen-Verlag, Doppelband, 49,99 Euro