Vor einem Jahr trat Michael Neumann als Innensenator zurück. Jetzt spricht er über die Hintergründe seines Rücktritts. Über die Last, Polizisten in gewalttätige Demonstrationen zu schicken, Kanzlerin Merkels Flüchtlingspolitik, die Niederlage beim Olympia-Referendum und sein neues Leben

Der Mitarbeiter des RuderClubs Allemannia von 1866 lacht, als er Michael Neumann im Bootshaus auf der Gurlittinsel am Ostufer der Außenalster entdeckt: „Du kannst hier direkt mit anpacken.“ An diesem Dezembertag wird das Clubhaus renoviert, Neumann ist indes nicht zum Arbeiten gekommen. Wir treffen den einstigen Innen- und Sportsenator, um über seinen Rücktritt zu reden, der sich am 18. Januar jähren wird. Klar ist: Die Trennung von seiner Ehefrau Aydan Özoguz, Staatsministerin im Bundeskanzleramt, wird in diesem Gespräch keine Rolle spielen – denn das ist Privatsache.

Herr Neumann, für einen ehemaligen Senator fahren Sie ein ganz schön kleines Auto …

Michael Neumann: Mein letzter Dienstwagen als Senator war ein Golf. Jetzt fahre ich zwei Nummern kleiner – einen Lupo. Übersichtlich, günstig im Unterhalt und Verbrauch.

In einem Golf auf der Rückbank Akten zu studieren stellen wir uns nicht gerade bequem vor.

Habe ich auch nicht gemacht. Ich bin meist selbst gefahren, nur wenn es weiter weg ging, haben wir den Bulli genommen, und ich wurde gefahren. Ich mochte es nicht, chauffiert zu werden, außerdem fahre ich gern Auto.

Der Dienstwagen fehlt Ihnen nach Ihrem Rücktritt vor einem Jahr also nicht. Was vermissen Sie denn?

Die Menschen, die Kollegen, mit denen ich zu tun hatte. Und es schmerzt ein wenig, dass ich mich von den meisten nicht mehr richtig verabschieden konnte. Aber man kann ja nicht ein halbes Jahr vorher ankündigen, dass man zurücktreten wird.

An jenem 18. Januar 2016 gab es nur eine kurze Erklärung im Rathaus an der Seite des Bürgermeisters. Was waren denn nun wirklich die Gründe für den Amtsverzicht?

(lacht)

Großes Staatsgeheimnis … Ich bin vor Wochen im Supermarkt an der Kasse gefragt worden: „Herr Neumann, jetzt können Sie es doch verraten, was ist damals wirklich passiert?“ Viele wittern da immer noch Skandal und Verschwörung.

Ihre Antwort?

Banal. Schon nach der ersten Legislaturperiode hatte ich den Bürgermeister informiert, dass ich nicht mehr weitermachen möchte. Das überschnitt sich dann aber mit dem gerade laufenden Wettbewerb zwischen Hamburg und Berlin um die Chance, Paralympische und Olympische Sommerspiele für Deutschland ausrichten zu dürfen. Das war mein Baby. Aber schon damals war für mich klar, dass ich nicht mehr eine weitere volle Legislaturperiode machen werde. Deshalb kandidierte ich 2015 auch nicht mehr für die Hamburgische Bürgerschaft, der ich fast 18 Jahre angehörte.

Warum? Für viele Ihrer Kollegen ist ein solches Amt wie eine Droge.

Für mich nicht. Ich war in den Wahlkämpfen sowohl für Thomas Mirow als auch für Michael Naumann in den Schattenkabinetten. Und ich wollte Hamburger Innensenator werden. Aber schon nach ein paar Tagen erkannte ich, dass Opposition das eine, Senatsverantwortung das andere ist. Es gab keinen Zauberstab, mit dem ich die Probleme mal eben lösen konnte. Im Gegenteil, es mussten dicke Bretter gebohrt werden. Du kannst die Welt nicht besser machen, Raube, Einbrüche oder Gewalt bei Demonstrationen verhindern. Es war eine ungeheure Verantwortung. Akten nahm ich nie mit nach Haus, aber die Erlebnisse. Du starrst nachts auf das Handy, fragst dich, ist wieder etwas passiert, ist wieder ein Kollege verletzt worden. Es gibt Menschen, die werden im Laufe der Jahre im Amt härter, ich wurde immer dünnhäutiger.

Welche negative Erfahrung hat Sie besonders geprägt?

Diese sinnlose Gewalt bei den Lampedusa-Demonstrationen …

… rund um die Gruppe von Flüchtlingen, die sich weigerten, ihre Identität offenzulegen, da sie bereits in Italien ein Asylverfahren durchlaufen hatten …

Der schlimmste Tag war der 21. Dezember 2013. Es war wieder eine Großdemonstration angekündigt. Ich hatte ausgerechnet für diesen Nachmittag schon vor Wochen meinen Besuch beim Bundesliga-Spiel des HSV zugesagt, die Fanclubs hatten mich eingeladen, der Termin war bereits dreimal verschoben worden. Zuvor hatte es Auseinandersetzungen um die Randale beim Schweinske-Cup gegeben; die Fans wollten, dass ich mich vor Ort informiere und dem Gespräch stelle. Und mir war es wichtig, die Anliegen der Fans ernst zu nehmen.

Dann sind Sie als Innensenator mitten in den Fanblock rein? Ihre Bodyguards müssen doch durchgedreht sein.

Nein, das sind coole Typen. Hochprofessionell. Außerdem vermutet ja niemand, dass der Typ mit Basecap und Outdoor-Jacke der Innensenator ist. Und da die Polizei erst in den Abendstunden mit eventuellen Ausschreitungen rechnete, habe ich mich in den Fanblock gestellt. Doch dann machte mein Handy alle paar Minuten bing: zehn Beamte verletzt, 15 Beamte verletzt, 20 Beamte verletzt. Wir haben den Besuch dann abgebrochen und sind zum Einsatz gefahren.

Haben Sie den Einsatz dann koordiniert?

Nein. Wir haben eine hochprofessionelle Polizei. Die Kolleginnen und Kollegen verstehen ihr Handwerk. Da sollte man schön bei seinen Leisten bleiben. Aber natürlich verfolgt man die Lagemeldungen, sieht die verletzten Kollegen. 120 Beamte sind damals durch brutalste Gewalt verletzt worden. Und ich durfte mir am nächsten Tag von einem Polizeigewerkschafter auch noch sagen lassen, dass ich in der HSV-Loge Schampus getrunken hätte, während die Kollegen mit Steinen beworfen wurden. Das ist mir sehr an die Nieren gegangen, geht es heute noch. Der Gewerkschaftsfunktionär hat sich später dafür entschuldigt.

Im Sommer 2015 machte Bundeskanzlerin Angela Merkel faktisch die Grenzen auf, die Flüchtlinge strömten zu Hunderttausenden nach Deutschland.

Das hat die Frau Bundeskanzlerin so entschieden. Aber man hätte meinen Kollegen viel Leid ersparen können, wenn man schon damals gesagt hätte, dass das geltende Ausländerrecht keine Anwendung mehr findet. Mit dieser Rolle rückwärts ist alles konterkariert worden, was wir damals für Recht und Gesetz hielten, ich noch heute halte. Der Bürgermeister, der gesamte Senat, die gesamte SPD-Fraktion in der Bürgerschaft waren in dieser Frage völlig klar. Diese Sache trage ich nach wie vor mit mir rum. Ich habe oft genug Beamte vor einem Einsatz im Bereitschaftsstellungsraum besucht und in die Augen geschaut. Und ich wusste, dass sie sich nach dem Einsatz abstruse, dumme und falsche Vorwürfe anhören müssen. Das war und ist eine Sauerei gegenüber unseren Einsatzkräften, die ihre Gesundheit für unsere Sicherheit einsetzen.

Haben Sie noch Kontakt zu Beamten, die während Ihrer Amtszeit zu Schaden kamen?

Ja. Ich habe tolle Menschen kennenlernen dürfen. Ein Versprechen steht noch aus: Einem Feuerwehrmann, der sich bei einem Einsatz schwer verletzt hatte, weil ein Autogastank nach einem Unfall explodierte, hatte ich in der Klinik in Lübeck versprochen, dass wir nach seiner Genesung gemeinsam die Cyclassics fahren werden. Ich hoffe, dass ich dieses Versprechen bald einlösen kann.

Sie waren auch bei Abschiebungen dabei.

Ich habe dort Kollegen getroffen, die eine unglaublich wichtige Aufgabe sehr verantwortungsbewusst wahrnehmen und dafür von Teilen der Gesellschaft auch noch angefeindet werden. Aber das ist typisch für unsere momentane Haltung: Wir wollen, dass abgelehnte Asylbewerber zurückgeführt werden, aber mit so unangenehmen Dingen wie einer Abschiebung wollen wir nicht behelligt werden. Das soll ,irgendwie‘ gemacht werden. Aber bitte ohne Stress, ohne öffentliche Wahrnehmung. Und wer die Menschen sind, die diese schwere Aufgabe für uns erledigen, interessiert nicht.

Für Schlagzeilen sorgte die angebliche Geiselnahme eines Babys durch eine Beamtin …

Bei einer Abschiebung wurde einer Mutter schwindelig, sie drohte in sich zusammenzusacken. Daraufhin hat eine Kollegin ihr das Baby abgenommen, um es zu schützen. Dies wurde von mehreren Zeugen, auch einem Arzt, so bestätigt. Die Abgeordnete Schneider (flüchtlingspolitische Sprecherin der Linken, die Red.) hat daraus den Vorwurf gestrickt, die Beamtin habe das Baby als Geisel genommen. Und obwohl das Gegenteil bewiesen wurde, hat sich diese Abgeordnete bis heute nicht dafür bei der Kollegin entschuldigt. So etwas ist gemein und verantwortungslos. Ich bewundere jeden, der sich einer solchen Aufgabe überhaupt noch stellt. Gerade den Kolleginnen und Kollegen der Ausländerbehörde schuldet Hamburg großen Dank – was die Aufnahme der Flüchtlinge angeht, aber auch was die Rückführungen angeht!

Im Zuge der Demos gab es auch Drohungen gegen Sie.

Ja, aber ich fühlte mich nie in Gefahr. Mir taten nur die Kolleginnen und Kollegen leid, die sich da jede Nacht einen abgefroren haben. Und die an anderer Stelle vielleicht sinnvoller eingesetzt worden wären.

Das klingt doch nach einer persönlich eher negativen Bilanz.

Nein. Ich durfte das tollste Amt fünf Jahre lang bekleiden, durfte wunderbare Menschen kennenlernen. Aus allen Bereichen. Und die Kollegen aus der Innenbehörde, der Polizei, der Feuerwehr vermisse ich sehr. Das sind Menschen, auf die zu 112 Prozent Verlass ist, die sich allein auf das gemeinsame Ziel konzen­trieren. Rund um die Uhr. In Anführungszeichen gesprochen war und bin ich der Vorsitzende des Fanclubs der Hamburger Innenbehörde. Wenn andere in den Dienstschluss gehen, fängt die Innenbehörde erst an – dies hat sich gerade bei der Aufnahme der Flüchtlinge gezeigt. Hamburg kann stolz auf unsere Sicherheitskräfte sein. Aber rückblickend muss ich feststellen, dass ich insgesamt, wie man in meiner Dortmunder Heimat sagen würde, nicht abgewichst genug für diesen Job war. Mir fehlte die Distanz, die nötige Abgeklärtheit.

Nach außen vermittelten Sie immer ein anderes Bild. Ein Sheriff, ein Macher.

(lacht)

Sie sehen, auch Schweineherzen können bluten.

Am Ende Ihrer Amtszeit stand der Volksentscheid bei der Olympiabewerbung. Hatten Sie mit einer Niederlage gerechnet?

Nein. Ich hätte es auch nie für möglich gehalten, dass sich meine Stadt gegen eine solche Chance entscheidet. Wenn ich Freunden den Hafen zeige, sage ich nicht selten, genau hier hätte das Olympiastadion stehen können. Schauen Sie jetzt auf die Alster, hier hätte es zumindest Show-Rennen gegeben. Mein Vater nennt Hamburg seit der Entscheidung nur noch HamDorf. Allerdings muss ich auch selbstkritisch feststellen, dass es am Ende nur noch um Infrastruktur und Bauen ging. Der Sport, die Chancen, die in ihm als gesellschaftliche Kraft liegen, fand kaum mehr statt.

Wie ist jetzt die Rückkehr zur Helmut-Schmidt-Universität. Spricht man Sie dort mit Herr Senator an? Auf diesen Titel haben Sie ja laut Protokoll auch nach dem Ausscheiden Anspruch.

In der Tat gibt es einige, die nicht müde werden, Herr Senator zu sagen. Ich habe ihnen geraten, mich auch als „Träger des Goldenen Sportabzeichens“ anzusprechen. Nein, im Ernst, auf Titel lege ich keinen Wert.

Welche Vorlesungen halten Sie?

Ich bin im Januar mit einer Reihe unter dem nicht ganz ernst gemeinten Titel „Deutschland – Warum sind wir so komisch, wie wir sind“ gestartet. Ich möchte den Studierenden aufzeigen, weshalb andere Länder Denkmäler für ihre größten Siege bauen, während wir Mahnmale errichten, die an all das Unheil erinnern, welches im deutschen Namen angerichtet wurde. Und warum genau das richtig ist. Weshalb wir manchmal so kompliziert sind und wir wissen müssen, woher wir kommen, um zu entscheiden, wohin wir wollen.

Mit Verlaub, Herr Neumann, warum braucht ein Berufsoffizier im Afghanistan-Einsatz dieses Rüstzeug?

Weil gerade deutsche Soldaten in diesen Einsätzen einen moralischen Kompass brauchen. Sie müssen lernen, weshalb wir Deutsche uns mit unserer historischen Verantwortung anders verhalten wollen als andere Nationen. Warum wir unseren Weg gehen, ohne andere zu belehren. Ich möchte den jungen studierenden Offiziersanwärtern und Offizieren helfen, eine Haltung zu entwickeln, aus der heraus sie in Krisen die richtigen Entscheidungen treffen. Und auch die Lust wecken, Entscheidungen zu fällen, Verantwortung zu übernehmen.

Was gefällt Ihnen am besten an Ihrer neuen Aufgabe?

Auch wenn sich jetzt manche amüsieren werden: dass ich wieder Zeit zum Denken habe. In der Zeit als Senator war jeder Tag total durchgetaktet. Wenn gerade ein Gespräch gut lief, klopfte meine Sekretärin und sagte: Herr Neumann, Ihr nächster Termin wartet. Das war die Zeit des Verkaufens, jetzt ist die Zeit des Denkens. Und ich genieße es, dass ich mit jungen Menschen zusammen sein darf, die einen fordern. Das verhindert, dass man innerlich verknöchert.

Also kein Gedanke an ein politisches Comeback?

Ich bin jetzt glücklich. Allein den Gedanken würde ich derzeit als Bedrohung dieses Glückes empfinden.