Angekommen in Hamburg. In der Gesprächsreihe des Abendblatts sprechen Prominente über ihren Migrationshintergrund, über ihr Leben, über Deutschland und Grenzgänge zwischen den Kulturen. Heute: Sonja Lahnstein-Kandel
Sonja Lahnstein-Kandel kam als 16-jähriges Mädchen nach Hamburg, in eine fremde Stadt, als Jüdin in das Land der Täter. Nach vielen Jahren im Ausland kehrte die Gattin des früheren Bundesfinanzministers Manfred Lahnstein 1992 nach Hamburg zurück. Die „deutsche Staatsbürgerin jüdischer Abstammung mit einem europäischen Hintergrund“ gründete Step 21, eine Stiftung für Toleranz und Verantwortung. Zudem hat die stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsrats der Universität Haifa die Dialogreihe „Bridging the Gap“ initiiert.
Hamburger Abendblatt: Frau Lahnstein-Kandel, wenn Sie das Wort „Heimat“
hören, welche Bilder entstehen dann
in Ihrem Kopf?
Lahnstein-Kandel: Da sehe ich unterschiedliche Bilder. Heute denke ich oft an die kleine Straßenecke in Zagreb, wo ich aufgewachsen bin. Dort habe ich mich an der Schwelle zum Erwachsenwerden immer mit meinen Freundinnen getroffen, bevor ich dann mit 16 Jahren nach Deutschland ziehen musste. Aber immer, wenn ich im Ausland bin, denke ich an Hamburg.
Wie waren Ihre ersten Wochen
in Hamburg?
Lahnstein-Kandel: Es war ganz, ganz schlimm. Ich sprach kein Deutsch, nur ein wenig Englisch. Und natürlich wollte ich nicht aus Jugoslawien weg – aber ich musste mit, weil meine Eltern sich zur Auswanderung entschlossen hatten. Zuerst habe ich mich damit getröstet, dass Hamburg am Meer liegt. Diesen Irrtum musste ich dann nach der Ankunft auch noch verkraften. Ich musste in Zagreb fast alles zurücklassen, auch wenn wir nicht aus Angst um Leib und Leben geflohen sind. Aber wir kamen trotzdem in einem Nichts an. Unsere erste Bleibe war ein kleines, möbliertes Zimmer in Winterhude. Nach einem Jahr haben wir es dann in eine möblierte Zweizimmerwohnung geschafft.
Finden Sie sich manchmal im Schicksal der Flüchtlinge wieder?
Lahnstein-Kandel: Manchmal denke ich dann schon an meine Situation damals in Hamburg – das Zurechtfinden und Neuanfangen habe ich als dramatisch empfunden. Viel dramatischer aber erging es natürlich meinen Eltern, die damals als Juden aus dem faschistischen Kroatien fliehen mussten. Diese Fluchtgeschichte meiner Familie ist Teil meiner Identität.
Warum ist die Integration Ihrer Familie so gut gelungen?
Lahnstein-Kandel: Man muss unterscheiden zwischen Flüchtlingen, die in ihre Heimat zurückkehren möchten, und Auswanderern. Wir kamen in den 60er-Jahren als Gastarbeiter, als Facharbeiter. Damals zogen ja auch viele Ärzte nach Deutschland, Chemiker, Architekten, Ingenieure, die den Willen mitbrachten, in einem neuen Land ein neues Leben aufzubauen – ohne Verleugnung der Herkunft, aber mit einer Hinwendung zur Zukunft.
Halten Sie Integration da für
eine Bringschuld?
Lahnstein-Kandel: Ich bin mir nicht sicher. Die großen Einwanderungsgesellschaften haben keine großen Integrationsprogramme aufgelegt. Viel wichtiger ist ihnen der Wille der Menschen, etwas für sich und ihre Kinder zu erreichen.
Sie sind Jüdin – halten Sie die aktuelle Zuwanderung vor allem von Muslimen für ein Problem?
Lahnstein-Kandel: Bis vor Kurzem ist das Problem doch nicht thematisiert worden. Der Zentralrat der Juden hat es dann angesprochen – und die Political Correctness hat die Debatte schnell erstickt. Das Problem ist da, wenn Menschen aus Kulturkreisen kommen, in denen das Judentum nicht mehr vorkommt. Das jüdische Leben ist in der arabischen Welt systematisch verdrängt worden – übrigens anders als im Iran, wo es noch immer eine jüdische Gemeinde gibt. Der Antisemitismus bekommt dadurch hierzulande ein neues Gesicht.
Haben Sie selbst jemals Antisemitismus zu spüren bekommen?
Lahnstein-Kandel: Nicht in der Form tätlicher Angriffe, aber in Berlin wurde ich einmal angepöbelt. Und indirekt habe ich den Antisemitismus schon gespürt. Heute wird Israel zum Kristallisationspunkt. Kürzlich wurde ich angesprochen, warum mein Präsident im Gefängnis sei. Gauck im Gefängnis?, habe ich gedacht. Aber mein Gesprächspartner meinte den ehemaligen israelischen Präsident Mosche Katzav. Da muss man erst einmal draufkommen. Auch in der Hamburger Gesellschaft treffe ich manchmal auf diese Form der Israel-Ablehnung.
In den 90er-Jahren haben Sie Step 21, ein Projekt für Toleranz und Verantwortung, initiiert – als Reaktion auf die Anschläge von Mölln.
Lahnstein-Kandel: Ja, diese Anschläge haben mich total schockiert. Anfang der 90er-Jahre gab es den Anschlag auf die Lübecker Synagoge, die Anschläge von Solingen und Mölln, die Hetzjagden in Rostock und Hoyerswerda. Mir war klar, wenn ich in diesem Land wieder ein glückliches Leben führen möchte, muss ich etwas gegen den Hass tun.
Haben Sie damals an Ihrer Wahlheimat gezweifelt?
Lahnstein-Kandel: Es war auf jeden Fall verstörend. Wir haben nie ernsthaft eine Auswanderung geplant, ertappt habe ich mich aber manchmal schon bei dem Gedanken. Ich habe damals Toleranz und Empathie vermisst. Und doch ist Deutschland ein demokratisches Vorbild, das seine Vergangenheit beispielhaft aufgearbeitet hat.
Ist das Land heute anders
als Anfang der 90er?
Lahnstein-Kandel: Ich denke schon, dass die Demokratie heute gefestigt ist und viele junge Menschen offener sind als früher. Die Mehrheit weiß heute, dass wir in einer globalisierten Welt Offenheit leben müssen.
Zur Flüchtlingskrise hat Angela Merkel gesagt: Wir schaffen das. Stimmen Sie ihr zu?
Lahnstein-Kandel: Ja, wir schaffen das. Gerade in dem Moment der Tragödie im letzten Herbst war es ein richtiger Satz. Die Umstände haben sich durch die Schließung der Balkanroute und den Türkei-Deal ja inzwischen geändert. Wir sollten aber nicht vergessen: Deutschlands Volkswirtschaft benötigt nach Berechnungen rund 400.000 bis 500.000 Zuwanderer jährlich.
Nun kommen derzeit aber weniger Fachkräfte in unser Land als vielmehr auch Analphabeten, etwa aus Ländern wie
Afghanistan ...
Lahnstein-Kandel: Ja, aber die Gastarbeiter aus Süditalien oder Anatolien waren auch keine ausgebildeten Fachkräfte. Je jünger die Einwanderer sind, desto besser kann Integration gelingen. Bei Kindern sind Sprache und Wertevermittlung kein großes Problem. Schwieriger wird es bei jungen Männern – da warten sicher noch Herausforderungen auf uns.
Hatten Sie damals eine kroatische Gemeinde, in der Sie Anschluss fanden?
Lahnstein-Kandel: Nein. Und es gab auch keine Integrationsprogramme. Die Gastarbeiter kamen, wollten vorankommen und in der Gesellschaft reüssieren.
Musste man besser sein als
die Einheimischen?
Lahnstein-Kandel: Man muss als Migrant sicher besser sein. Da fällt mir der alte Spruch der Frauenbewegung ein. „Man muss als Frau doppelt so gut sein wie ein Mann, um Erfolg zu haben. Gott sei Dank ist das nicht schwer.“ Im Ernst: Man muss sich als Migrant besonders durchbeißen – die Sprache, die Kultur, die Eigenarten lernen und die eigene Identität ergründen. Das stählt. Und von diesem Biss der Migranten profitiert natürlich das Einwanderungsland. Es war für mich manchmal extrem schwer, aber ich will diese Zeit nicht missen.
Wie schwer hat es Ihnen Ihre
neue Heimat gemacht?
Lahnstein-Kandel: Es hat sich niemand für unsere Geschichte interessiert. Hamburg war komplett verschlossen. Meine Eltern mussten im neuen Job – er als Arzt, sie als Apothekerin – gleich funktionieren. Das war aber nicht unbedingt die Kälte der Hamburger, sondern eher ein freundliches Desinteresse.
Sie sind zweimal nach Hamburg gekommen: 1966 aus Kroatien, 1992 aus den USA. Hat sich die Stadt eigentlich sehr verändert?
Lahnstein-Kandel: Ja. Die Stadt ist viel offener geworden, hat sich von einer Hafen- in eine Dienstleistungsstadt verwandelt.
Sie engagieren sich an vielen Stellen in Ihrer neuen Heimat. Mit der Dialogreihe „Bridging the Gap“ im Thalia Theater wollen Sie helfen, Konflikte zu überwinden. Stellen Sie sich vor, Sie hätten drei Wünsche für Hamburg frei.
Lahnstein-Kandel: Zunächst einmal würde ich sagen: weiter so. Und dann ergänzen: Etwas mehr Mut zur Durchmischung kann nicht schaden. Im Vergleich zu London oder New York ist Hamburg doch noch sehr getrennt, jeder geht seine eigenen Wege. Und etwas weniger hanseatische Aura kann der Stadt auch nicht schaden, manchmal ist man doch etwas zu sehr eingenommen von sich selbst. Manchmal möchte man Hamburg ein bisschen durchschütteln.