Vor 200 Jahren wurde Friedrich Gerstäcker an der Poststraße geboren. Der Schriftsteller und Abenteurer ist bei uns weitgehend vergessen. Im US-Bundesstaat Arkansas widmet man ihm aber einen eigenen Gedenktag
An der Poststraße 19 in der Neustadt erinnert eine jener Tafeln, die die Patriotische Gesellschaft an historisch bedeutsamen Orten in Hamburg angebracht hat, an Friedrich Gerstäcker, der am Dienstag vor 200 Jahren hier geboren wurde. „21-jährig ging er nach Amerika, durchstreifte Kalifornien und überquerte die Kordilleren“, heißt es in dem Text, in dem als Reisestationen auch Mexiko, Ecuador, Venezuela, Java, Tahiti und Australien genannt werden – ein enormes Pensum in der Segelschiff- und Postkutschen-Ära des 19. Jahrhunderts. Friedrich Gerstäcker war aber nicht nur Weltreisender und Abenteurer, er gehörte zu den erfolgreichsten Schriftstellern seiner Zeit und war außerdem einer der ersten Star-Literaten Deutschlands. Sein Porträt wurde in Almanachen und Zeitschriften so oft abgedruckt, dass man ihn auf der Straße erkannte und mit Respekt und Bewunderung grüßte, auch wenn er das persönlich keineswegs geschätzt hat.
Geboren wird er als Kind des Opernsängers Friedrich Samuel Gerstäcker und dessen Ehefrau, der Schauspielerin Louise Friederike Herz, die damals beide am Hamburger Stadttheater engagiert waren. Nach dem frühen Tod des Vaters gerät dessen Witwe in wirtschaftliche Schwierigkeiten und gibt Friedrich und dessen Schwester Molly in die Obhut eines nahen Verwandten in Braunschweig. Nach dem Besuch des dortigen Gymnasiums tritt der junge Mann in Kassel eine kaufmännische Lehre an, für die er sich aber als denkbar ungeeignet erweist.
Zu Fuß macht er sich zu seiner Mutter auf, die in Leipzig wohnt, um ihr zu eröffnen, dass er vorhabe, nach Amerika auszuwandern. Die landwirtschaftliche Ausbildung, die er ihrem Wunsch gemäß in dem bei Grimma gelegenen Rittergut Doeben absolviert hat, betrachtet er nur als Vorbereitung für sein Leben in der Neuen Welt, das er sich aufregend und abenteuerlich vorstellt. In Sachsen lernt Gerstäcker, der damals den „Robinson Crusoe“ von Defoe und die „Lederstrumpf“-Bände von Cooper liest, auch Reiten und Schießen. So fühlt er sich bestens vorbereitet, als er 1837 in Bremerhaven ein Schiff nach Amerika besteigt.
In den USA nimmt er verschiedene Jobs an, arbeitet als Heizer und Koch, als Silberschmied und in einer Schokoladenfabrik. Er durchstreift die Wildnis als Jäger, verdingt sich als Holzfäller und Landarbeiter. Mit wachem Blick für die landschaftlichen Besonderheiten und die sozialen Verhältnisse, die er in seinem Tagebuch festhält, lernt er verschiedene Gegenden kennen, von Kanada bis nach Texas, Arkansas und Louisiana. Als er 1843 im Alter von 27 Jahren wieder deutschen Boden betritt, ist das keineswegs die Rückkehr eines gescheiterten Auswanderers, sondern der Auftakt einer großartigen Karriere als Reise- und Abenteuerschriftsteller. „Streif- und Jagdzüge durch die Vereinigten Staaten Nordamerikas“, heißt 1844 der Titel seines ersten Buches, das dem deutschen Publikum einen faszinierenden Blick in die „Neue Welt“ eröffnet. Es folgen die spannenden Abenteuerromane „Die Regulatoren von Arkansas“ (1846), „Die Flusspiraten des Mississippi“ (1848) sowie zahlreiche weitere Romane und Reisebeschreibungen, in denen oft das Schicksal deutscher Auswanderer erwähnt wird.
„Geschichte eines Ruhelosen“ heißt der treffend gewählte Titel, den Gerstäcker einem autobiografischen Text gibt, den die „Gartenlaube“ 1870 abdruckt. Da hat der Schriftsteller längst geheiratet und ist Familienvater, bricht aber trotzdem immer wieder für längere Zeit zu ausgedehnten Reisen in ferne Weltgegenden auf.
„Er war stets hin- und hergerissen zwischen Fernweh und Heimweh“, sagt der Literaturwissenschaftler, Autor und Verleger Thomas Ostwald. Der Vorsitzende der 1979 gegründeten Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft, der die bislang einzige Biografie dieses Schriftstellers verfasst hat, leitet auch das Gerstäcker-Museum, das sich im ehemaligen Wach- und Küchenhaus von Schloss Richmond in Braunschweig befindet.
„An seine Geburtsstadt hatte Gerstäcker keine persönlichen Erinnerungen, weil er schon als kleines Kind nach Braunschweig kam“, sagt Ostwald. Auch später habe er sich nur selten in Hamburg aufgehalten, Ausgangspunkt seiner Schiffsreisen sei meistens Bremen gewesen. „Dafür bewahrt die Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek aber Gerstäckers frühestes Originalmanuskript auf, nämlich seine Briefe an Adolph Hermann Schultz aus den Jahren 1835 bis 1854, die unter dem Titel ,Mein lieber Herzensfreund’ erschienen sind“, sagt Ostwald, der auch eine Menge darüber erzählen kann, wie stark sich Karl May bei Gerstäcker „bedient“ hat. Das war übrigens schon Egon Erwin Kisch aufgefallen, der merkwürdige Übereinstimmungen zwischen Gerstäckers „Das Mädchen von Eimeo“ und Karl Mays Erzählung „Die Rache des Ehri“ feststellte, für die der Sachse den Plot übernommen und lediglich umgearbeitet hat. „Selbst die Figur des Winnetou dürfte May von Gerstäcker entlehnt haben, denn der Apachenhäuptling erinnert schon sehr an den edlen Indianer Assowaum, der in den ,Regulatoren von Arkansas‘ als Belohnung für seine Tapferkeit auch noch eine mit Silbernägeln beschlagene Büchse erhält“, sagt Ostwald.
Den Antwortbrief schreibt damalsein gewisser Bill Clinton
Schon zu Lebzeiten werden einige von Gerstäckers Büchern ins Englische übersetzt und in den USA verlegt. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist er aber weitgehend in Vergessenheit geraten. Das ändert sich erst in den 1950er-Jahren, als der amerikanische Literaturwissenschaftler und Germanist Clarence Evans auf die „Streif- und Jagdzüge“ stößt und feststellt, wie präzise dort Landschaften und frühe Siedlungsplätze beschrieben werden.
„Evans entdeckte, dass Gerstäckers Beschreibungen die wahrscheinlich wichtigste Quelle zur frühen Siedlungsgeschichte des Bundesstaates Arkansas sind. Er war es auch, der dafür sorgte, dass der deutsche Schriftsteller 1957 postum zum Ehrenbürger von Arkansas erklärt wurde“, sagt Ostwald. Anfang der 1980er-Jahre fragt er im Namen der Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft beim Gouverneur von Arkansas nach, ob man sich dort noch an den deutschen Schriftsteller erinnere. „Wie der Gouverneur hieß, wussten wir nicht. Die Antwort kam von einem gewissen Bill Clinton, der uns mitteilte, dass man den 10. Mai in Arkansas fortan als Friedrich-Gerstäcker-Day zu feiern gedenke“, sagt Ostwald, und fügt schmunzelnd hinzu, dass eine Zeitung aus der Hauptstadt Little Rock damals über seinen Brief berichtet habe, mit der Bemerkung, er sei in „heavy teutonic English“ abgefasst.
Den 200. Geburtstag hat man am Wochenende in Braunschweig unter dem Motto „Glückwunsch Fritz!“ mit einem Symposium im Schloss Richmond gefeiert. Aber eigentlich sind Thomas Ostwald und seine Mitstreiter nicht in Feierlaune, denn da sich die Stadt Braunschweig außer Stande sieht, das bislang von der Gerstäcker-Gesellschaft unterhaltene Museum weiterzuführen, wird es demnächst geschlossen. Einige Exponate kommen ins städtische Museum, einige Stücke wird aber auch die BallinStadt übernehmen.
So wird Friedrich Gerstäcker nach 200 Jahren zumindest symbolisch in seine Geburtsstadt zurückkehren.