Altstadt. Der Senat geht auf die Bürger zu – nun soll gemeinsam nach passenden Flächen zur Unterbringung der Flüchtlinge gesucht werden. Ein modernes Computerprogramm der HafenCity Universität macht es möglich. Ein Vorstoß, der die Debatte versachlichen und am Ende einen Volksentscheid sogar überflüssig machen könnte
Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) ist gemeinhin als führungsstarker Politiker bekannt. Insofern war es ungewöhnlich, mit welch deutlichen Worten der Senatschef am gestrigen Dienstag die Bürger bei der Suche nach Flächen für Flüchtlingsunterkünfte in die Pflicht nahm. „Für mich geht es darum, dass wir das als unsere gemeinsame Angelegenheit begreifen. Fast 1,8 Millionen Hamburgerinnen und Hamburger haben ein gemeinsames Problem. Und am besten lösen wir das gemeinsam.“
Worum geht es? Der Senat erwartet – daran ließ Scholz trotz im Januar und Februar deutlich gesunkener Flüchtlingszahlen keine Zweifel –, dass Ende dieses Jahres rund 80.000 Geflüchtete in Hamburg untergebracht werden müssen. Das wären 40.000 mehr als Ende 2015. Dafür sieht Rot-Grün neben vielen kleinen Einrichtungen große Unterkünfte für mehrere Tausend Asylbewerber und -berechtigte vor. Gegen Großunterkünfte gibt es in den Stadtteilen aber Widerstand.
Es ist vor allem der in den vergangenen Monaten wiederholt geäußerte Vorwurf, SPD und Grüne würden die Bürger nicht ausreichend bei der Suche nach Flächen beteiligen und letztlich über deren Kopf hinweg entscheiden, der den Bürgermeister jetzt in die Offensive gehen ließ. Fündig wurde der Senat bei der HafenCity Universität.
Die Wissenschaftler hätten – mithilfe von Computersoftware des weltberühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT) aus Boston – ein „Stadtmodell zur Flächenfindung für Flüchtlingsunterkünfte in Hamburg“ entwickelt, sagte der Senatschef.
Grundlage sei ein Datenmodell, das City Scope genannt werde und an dem von April an in Workshops bis zu 40 Menschen interaktiv arbeiten könnten, sagte Prof. Gesa Ziemer, Direktorin des CityScienceLab. Es besteht aus zwei Modelltischen, auf denen Hamburg in unterschiedlichen Kartenausschnitten gezeigt wird, und mehreren Datenbänken, die eine Vielzahl von Informationen zur Verfügung stellen.
Dadurch ist es beispielsweise möglich, bei jeder auf einem der Tische angezeigten Fläche herauszufinden, ob diese für die Errichtung einer Flüchtlingsunterkunft geeignet ist. „Das Computerprogramm zeigt alle öffentlichen Flächen, die größer als 1000 Quadratmeter sind“, sagte Ziemer und fügte hinzu: 40 Menschen würden auf so einer Fläche leben können.
Zudem soll es möglich sein, durch mit einem Mikrochip ausgerüstete Legosteine mehrere Varianten für die Nutzung von Flächen durchzuspielen. Mit anderen Worten: Wenn auf einer Fläche mehr Geflüchtete untergebracht werden, kann an einem anderen Ort die Zahl der Plätze reduziert werden. „Ziel ist es, dass am Ende des Verfahrens alle 40.000 Menschen untergebracht sind“, sagte Ziemer.
Scholz machte aus seiner Begeisterung für dieses Verfahren keinen Hehl: „Das Tolle ist, es kann sich jeder selbst hinsetzen und es prüfen.“ Zudem wurde der Senatschef nicht müde zu betonen, wie wichtig es sei, in die Flächensuche die Menschen in dieser Stadt einzubeziehen. In Anlehnung an den Begriff Crowdfunding, eine Art Finanzierung durch viele kleine Geldgeber, sprach Scholz von „Crowdfinding“ und „Crowdsearching“.
Allerdings ließ der Bürgermeister keinen Zweifel daran, dass zu guter Letzt die zuständigen Behörden darüber entscheiden, wo Flüchtlingsunterkünfte entstehen. Mit Blick auf die Bürgerinitiativen, die sich in einer Reihe von Stadtteilen gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in Großsiedlungen wenden, sagte Scholz: „Ich erhoffe mir, dass sich alle an ihre eigenen Worte halten. Es gibt einen Konsens: Wir wollen alle unterbringen, und wir wollen das in der ganzen Stadt tun.“
Bürgerinitiativen wollen das vom Senat vorgeschlagene Verfahren genau prüfen
Der Dachverband von 15 Bürgerinitiativen hatte am vergangenen Freitag die Volksinitiative „Hamburg für gute Integration!“ gestartet. Am späten Dienstagabend wurde bekannt, dass bereits mehr als die für einen Erfolg notwendigen 10.000 Unterschriften gesammelt wurden. Der nächste Schritt zu einem Volksbegehren wäre damit möglich. Zuvor hatte der Sprecher des Dachverbands, Klaus Schomacker, erklärt, er begrüße, dass der Senat die Hamburger bei der Auswahl von Flächen für Flüchtlingsunterkünfte einbeziehen wolle. „Entscheidend wird allerdings sein, ob die Vorschläge von Anwohnern letztlich auch Eingang in die Planung der Behörden finden, oder ob das jetzt vorgeschlagene Verfahren lediglich ein Feigenblatt sein wird.“
Man werde sich das in Ruhe anschauen und prüfen. „Allerdings scheint mir bei dem jetzt vorgeschlagenen Verfahren der Gedanke der Stadtentwicklung zu kurz zu kommen“, fügte Schomacker hinzu. „Wir suchen ja nicht nur Flächen, sondern wir brauchen Unterbringungsmöglichkeiten.“ Der Ausbau von Dachgeschossen beispielsweise spiele keine Rolle. „Außerdem müssen wir uns genau die Kriterien anschauen, die von vornherein Flächen für die Errichtung von Flüchtlingsunterkünften ausschließen“, sagte Klaus Schomacker. „Wir sorgen uns, dass die Stadt durch die Hintertür ihre bisherigen Vorstellungen – scheinbar wissenschaftlich untermauert – durchsetzen will.“
Der Dachverbandssprecher bezog sich dabei auf bereits feststehende Kriterien, die nach den Worten von Prof. Ziemer Gebiete von der Nutzung für Flüchtlingsunterkünfte ausschließen. So würden Flächen, die in Lärmschutzzonen, Naturschutzgebieten und Wäldern lägen oder für Wohnungsbau vorgesehen seien, nicht angetastet.
Die Opposition in der Bürgerschaft reagierte unterschiedlich auf das Angebot des Bürgermeisters. Während Union und FDP Kritik übten, signalisierte die Linke Unterstützung. „Allein die Tatsache, dass sich Scholz nach Monaten der Basta-Politik heute endlich dazu bereitgefunden hat, bei der Flächenfindung für Flüchtlingsunterkünfte neue Wege zu gehen, ist ein Zeichen, dass der Druck von Opposition und Volksinitiative wirkt“, sagte der Vorsitzende der CDU-Fraktion, André Trepoll. Er verwies darauf, dass Prof. Ziemer sich im Beisein von Scholz gegen Massenunterkünfte ausgesprochen habe. „Auch ihr Hinweis, dass sie es für möglich hält, in Hamburg genügend Flächen für eine dezentrale Unterbringung zu finden, stützt die Zweifel am bisherigen Kurs des Bürgermeisters.“
Die Chefin der FDP-Fraktion, Katja Suding, bezeichnete das von Scholz vorgestellte Stadtmodell als „Feigenblatt für eine gescheiterte Flüchtlingspolitik“. In der jetzigen Situation kämen langwierig angesetzte Workshops viel zu spät. „Anstatt auf technische Spielereien zu setzen, hätte der Senat schon seit langer Zeit das Gespräch mit den Bürgern suchen müssen“, erklärte Suding. Sie warf dem rot-grünen Senat zudem vor, sich aus der Verantwortung zu stehlen. „Lösungsorientierte Politik sieht anders aus.“
Christiane Schneider, flüchtlingspolitische Sprecherin der Linken-Fraktion, sprach von einem interessanten Projekt, das geeignet sei, die Stadtgesellschaft an der Suche nach Standorten für die Flüchtlingsunterbringung zu beteiligen. „Der Prozess der Flächenprüfung war bisher absolut intransparent, das kann sich nun ändern.“ Schneider bedauerte, dass dieses Projekt nicht schon vor einem halben Jahr auf den Weg gebracht worden sei.
Anjes Tjarks, Fraktionschef der Grünen, hofft, „dass wir mit dem CityScienceLab einen Weg gefunden haben, die große Schwarmintelligenz der Bevölkerung zu nutzen, und so zusätzliche Möglichkeiten in der Unterbringung finden“. Zugleich biete das Verfahren ein sehr hohes Maß an Transparenz.
Für Olaf Scholz ist die Flüchtlingsfrage auch eine persönliche Herausforderung. „Dass wir in dieser Stadt noch einmal 40.000 neue Plätze finden müssen, davon habe ich – was bei mir selten vorkommt – schlaflose Nächte.“ Ihn treibe die Frage um, wo Unterkünfte gebaut werden könnten. Auch „deshalb brauchen wir alle, die mitdenken, wie das denn gehen soll, und zwar im konkreten Hamburg, nicht in einem, das irgendwo auf dem Mond liegt“.