Wir haben zehn Tage lang geweint, als Karadzic gefasst worden war, sagt Elvir, der als Jugendlicher seine Heimat verlassen musste und seitdem in Hamburg lebt. Auf einmal kam die Erinnerung an den Schrecken zurück. Freude und Erleichterung sind Gefühle, die man auch häufig antrifft. Bei den Opfern von Karadzic. Eine Reise nach Bosnien, wo viele Flüchtlinge von einst Urlaub in der Heimat machen.
Es sind an die 30 Grad an diesem Augustwochenende in Sarajevo. In der Sonne lässt es sich kaum aushalten. Trotzdem flanieren die Touristen durch die Fußgängerzone. Einheimische erkennt man daran, dass sie sich im Schatten aufhalten. Sarajevos Altstadt ist schön, Kirchen stehen neben Moscheen. Frauen mit Kopftüchern sind zu sehen, alte Frauen mit langen Röcken und junge in kurzen, bunten Kleidern. Der Trend des Sommers sind aber Hotpants. Männer mit Sonnenbrillen führen demonstrativ ihre Autoschlüssel spazieren. Die meisten dieser Südeuropäer haben kurzes Haar und geben sich möglichst cool. Die Häuserfassaden sind frisch gestrichen. Alles wirkt idyllisch, sommerlich, fröhlich. Wie eine normale südländische Stadt. Die Einschusslöcher von Gewehren und Granaten sind erst wieder an den Gebäuden in den Nebenstraßen sichtbar.
Elvir hat als Treffpunkt den Platz vor der Kathedrale in der Altstadt vorgeschlagen. Der Platz vor der Kirche ist beeindruckend, Elvir auch. Er ist fast zwei Meter groß, hat dunkelblondes zurückgegeltes Haar, trägt ein hellblaues Hemd und weiße Leinenhosen. Er wirkt beschwingt, sommererholt und wie jemand, der Geld hat - und das ist etwas Besonderes in Bosnien-Herzegowina. Elvir Krako hat unter einem Schirm in einem Cafe gewartet. "Pünktlichkeit ist ungewöhnlich in Bosnien", sagt er, "aber ich wusste ja, dass ihr aus Deutschland kommt." Er ist zwar hier geboren, lebt inzwischen aber in Hamburg. In Sarajevo macht er nur Urlaub. Seit 20 Tagen.
Seine Eltern sind lange vor ihm nach Deutschland gezogen. Als jugoslawische Gastarbeiter haben sie in Deutschland gut verdient.
Elvir und seine Geschwister lebten bei den Großeltern in Sarajevo, in der Stadt, die im Tal liegt, umgeben von grünen Bergen. Elvirs Kindheit dort war behütet. Seine Eltern schickten das Geld, er hatte mehr als er brauchte, auch Freunde, und er war zum ersten Mal verliebt. Alles hätte so weitergehen können.
Aber im Sommer 1992, da war Elvir Krako 13 Jahre alt, und die Stimmung im Land längst gekippt, durfte er nicht mehr aus den Sommerferien, die er immer bei den Eltern in Hamburg verbrachte, nach Sarajevo zurückkehren. Der Bosnienkrieg war ausgebrochen, und das Mädchen, in das er verliebt war, hat er nie wieder gesehen.
Elvir hat sich einen Traubensaft bestellt, den er mit Mineralwasser trinkt, sonst wäre ihm der Saft zu süß. Der Kellner spottet über Elvir. Saft mit Wasser, ob das sein Ernst sei? "Schorle", sagt Elvir, den sie hier Eddy nennen, "kennt man in Bosnien nicht." Ihn amüsiert das. Elvir, der in Hamburg beim Brockhaus-Verlag als Medienberater arbeitet, ist für die Hiergebliebenen kein Bosnier mehr. Formal ist er sogar seit drei Monaten Deutscher, er besitzt einen deutschen Pass.
Alles in Sarajevo sei etwas süßer als in Hamburg, das Essen etwas schärfer, das Obst saftiger, das Gemüse würziger, die Sonne wärmer. Von Kalorien-Zählen oder Wellness-Lebensmittel scheint man hier noch nichts gehört zu haben. Das macht Elvir glücklich, das ist wenigstens noch ein bisschen so wie früher, so wie sich Heimat anfühlen sollte.
In diesem Jahr fühlt sie sich etwas anders an, die Heimat. Die Festnahme des früheren Präsidenten der Republik Srpska, Radovan Karadzic, hat die Kriegserlebnisse 13 Jahre nach offiziellem Kriegsende wieder zurück ins Bewusstsein gebracht. "Wir haben zehn Tage lang nur geheult. Als ich gehört habe, dass Karadzic gefasst wurde, war ich zwar der glücklichste Mensch der Welt. Aber jetzt geht das Verarbeiten wieder los." Neue Videos aus dem Krieg seien im Umlauf. Bilder von Gefechten, von Sterbenden, von Menschen, die tagelang gehungert haben. Bilder, auf denen Elvir Bekannte wiedererkannt hat. Die Festnahme des serbischen Kriegspräsidenten und der Krieg sind seit Tagen das Hauptthema.
Noch in der Nacht zum Dienstag (22. Juli) sind die Bewohner der Stadt in die Innenstadt geströmt, blockierten mit ihren Autos Straßen, hupten bis in die frühen Morgenstunden und feierten. Denn der heute 63-jährige Karadzic habe Sarajevo von 1992 bis 1995 belagern und aushungern lassen. Seine Truppen schossen von den Bergen, die man auch von diesem Cafe aus sieht, mit Granaten auf Sarajevo. Immer wieder sieht man auch auf dem Asphalt der Fußgängerzone Spuren von den Detonationen. Auch Scharfschützen zielten aus den Häusern auf Zivilisten, auf Menschen, die nur das Nötigste besorgen wollten.
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag, vor dem sich Karadzic inzwischen verantworten muss, verlas am Donnerstag, dem 31. Juli, am ersten Verhandlungstag elf Anklagepunkte gegen ihn. Darunter Völkermord, Ausrottung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Vorsätzliche Tötung als Verstoß gegen die Genfer Konventionen, Mord als Kriegsverbrechen.
Elvir sieht die Sache mit Karadzic ganz klar. Karadzic sei ein Verführer, von Haus aus Psychologe, suggestiv im Großformat, alles folgte der Idee eines groß-serbischen Reiches. "Wie so was geht, weiß man in Deutschland ja", sagt Elvir. "Karadzic ist krank."
Immer noch gebe es ein paar Nationalisten, auf jeder Seite. "Wie Neonazis sind die." Dass die serbische Regierung Karadzic jetzt ausgeliefert habe, läge nur daran, dass sie in die EU wollen, glaubt er.
Elvir war 1992 in den Sommerferien bei seinen Eltern in Hamburg, als seine Lehrerin, eine Serbin, seinen Vater anrief und sagte: "Sehen Sie zu, dass Ihr Sohn bei Ihnen bleibt. Hier passiert eine große Katastrophe." Für Elvir fand die persönliche Katastrophe erst einmal in Deutschland statt. Neuanmeldung in der sechsten Klasse der Gesamtschule in Horn. Er konnte kein Deutsch, er war noch keine zwei Meter groß, sondern 1,63 und wog 124 Kilogramm. Zu viel für einen, der sich verbal nicht gegen die Hänseleien der neuen Mitschüler wehren kann. Er vermisste Sarajevo, seine Kindheit, das Leben als Pionier; Pioniere waren die Teilnehmer der staatlichen Schülerorganisation. Er hat Briefe verteilt und Fahnen bei Sportfesten getragen. "Ich liebte mein Land. Ich habe nicht gemerkt, dass ich im Kommunismus gelebt habe." Was sich genau in Sarajevo abspielte, hat er von den Erwachsenen gehört. Oft saßen seine Eltern in ihrer Hamburger Küche, haben angespannt geredet, geweint und gebangt.
Elvir erinnert sich noch genau an einen Tag im August 1992. "Wir waren in einem Restaurant, und auf einmal hat mein Vater sein Besteck hingelegt. Er hat aufgehört zu essen und sagte: Es ist etwas Schlimmes passiert." Erst zu Hause erfuhren sie, dass der Bruder des Vaters, durch eine Schaufensterscheibe hindurch erschossen worden war. "Direkt ins Auge." Elvirs Gesicht verzieht sich bei den Worten. Er fährt sich mit der Hand durchs Haar, dann schüttelt er seinen Kopf. "In Sarajevo", sagt er, "waren irgendwann alle verrückt. Jeder hat gegen jeden gekämpft. Nachbar gegen Nachbar, Serben gegen Muslime, Kroaten gegen Serben. Überall in der Stadt fanden Häuserkämpfe statt. Auf der anderen Straßenseite oder nur in der gegenüberliegenden Wohnung saß dein Feind."
Der Vater fuhr in den drei Kriegsjahren 18-mal mit einem Lkw voll mit Hilfsgütern nach Bosnien, bis Sarajevo kam er nie, nur bis nach Bjelasnica, einer Stadt etwa 35 Kilometer von Sarajevo entfernt. Die Ladung hat er dann bei den Militärposten abgegeben, in der Hoffnung helfen zu können und dass etwas die Freunde und Verwandten erreicht.
Elvir ist erst nach dem Krieg im Sommer 96 wieder nach Sarajevo zurückgekehrt. Mit seinem ersten Auto, einem silbernen Golf 3, in 31 Stunden. "Ich bin fast wahnsinnig geworden. Ich bin von Zuhause abgehauen und einfach losgefahren. Ich wollte wissen, was mit meinen Freunden passiert war. Ob meine Heimat noch so schön ist." Das Kinderparadies von einst fand er nicht mehr, auch viele seiner Freunde nicht. Er erinnert sich an viel Militär, an grelles, gelbes Licht. Dann wollte er zurück nach Hamburg. Denn hier war alles grausam.
Elvir Krako ist jetzt 29 Jahre alt, er denkt auch ans Heiraten. Wenn er das wirklich wollen würde, hätte er es in Sarajevo einfacher als in Hamburg. Hier kommen auf jeden Mann zehn Frauen. Der Krieg hat ihm die Konkurrenten bei der Brautschau genommen.
Muniba Krdzic ist 40 Jahre alt, hat schwarzes Haar, ein liebes Gesicht und dunkle Augen, einen Mann hat sie nicht. Sie wäre also frei, aber für Männer wie Elvir ist sie sicher zu alt. Außerdem hat sie vier Kinder und Erinnerungen. Und die sind so beständig und schrecklich, dass vielleicht ein neuer Mann neben ihnen keinen Platz findet.
Als die Bilder vom ersten Verhandlungstag vor dem Den Haager UN-Tribunal im Fernsehen gezeigt wurden, da wusste Muniba Krdzic, dass sie den Richtigen erwischt hatten. Karadzics Bart, den er bei der Festnahme noch trug, war ab. Und an seinem Blick habe sie ihn erkannt.
Um zu erzählen, hat sie ihren Cousin mitgebracht, einer von zwei Männern ihrer Familie, die den Krieg überlebt haben und Senca ihre Schwägerin, die Deutsch spricht. Auf den Plätzen einer Hochhaussiedlung in Sarajevos Südwesten gibt es Cafes, spielen Kinder Basketball, lungern Jugendliche herum. An allen Häusern sind die Spuren des Krieges noch zu sehen, je höher man an der Fassade entlang schaut, um so gravierender. Löcher von Granatensplittern und Gewehrmunition. Muniba bestellt sich in einem dieser Cafes bosnischen Kaffee. In einer kleinen Tasse, schwarz und dickflüssig. In der Mitte sitzt ihre Schwägerin, daneben ihr Cousin. "Omer war ihr Mann", sagt Senca, die Schwägerin. Er war 31 Jahre alt, und sie war damals 27, als sie sich am 11. Juli 1995 in Srebrenica trennen mussten.
Sie stieg in den Bus nach Potocari, wie Tausende anderer Frauen, Kinder und Alte auch. Ihr Mann wurde wie mehrere Tausend Männer und Jungs ab zwölf Jahren von der serbischen Armee in den Wald getrieben. Omer hat sie an diesem Tag zum letzten Mal gesehen. Muniba lebt heute in Sarajevo mit ihren Kindern. Früher lebten sie alle in Srebrenica.
Und das erklärt eigentlich schon, was mit den anderen männlichen Familienmitgliedern, mit ihren Onkeln, mit ihrem Bruder, den Cousins, und ihrem Mann passiert ist. Sie wurden erschossen.
Die Tage um den 11. bis 13. Juli sind bekannt geworden unter dem Begriff: Massaker von Srebrenica. Ein Kriegsverbrechen während des Bosnienkrieges, das von den UN-Gerichten als Völkermord klassifiziert worden ist. Und Karadzic gilt neben dem Führer der Armee der Republika Srpska, Ratko Mladic, als Hauptverantwortlicher für dieses blutige Verbrechen.
8000 muslimische Männer wurden vom serbischen Militär zusammengetrieben, verfolgt, auf der Flucht erschossen und dann in Massengräbern verschart. Augenzeugen sprechen von Menschenjagd. Die Reste von Omer wurden vor drei Jahren gefunden.
Was Muniba in diesen Juli-Tagen gefühlt hat, kann sie nur schlecht beschreiben. Es ist, als ob sie keine passenden Worte findet. Sie atmet tief durch, sagt: "Wie soll ich das sagen. Ich war wie verrückt, ich habe gesehen wie Leute erschossen wurden, wie alle durcheinander gelaufen sind." Sie schaut ihren Cousin Ahmedin an, er soll ihr helfen. Er sagt: "Wir waren in der Hölle." Auch er wurde wie die anderen Männer in den Wald getrieben. Lebte nur von Obst und etwas Salz, das er mitgenommen hatte. Immer wieder schossen die serbischen Milizen wahllos in die Menge. Bald traute keiner mehr seinem Nächsten. Einmal fühlte Ahmedin eine Waffe in seinem Rücken. Ein Mann fragte ihn, wie er heißt, er nannte nur seinen Spitznamen "Medi", damit der andere über Aussprache und vollen Namen nicht erkennen kann, dass "Medi" Muslim ist. Er hatte Glück. Der andere ließ ihn laufen. Ob er Serbe oder Bosniake war, weiß Ahmedin nicht. Nach 13 Tagen erreichte er von bosnischen Truppen kontrolliertes Gebiet.
Auch wenn der UN-Chefankläger Serge Brammertz den serbischen Behörden zu ihrem "erfolgreichen Einsatz" gratulierte und Karadzics Festnahme als "einen Meilenstein" bezeichnete. Muniba ist das internationale politische Geplänkel egal. "Wir haben nichts davon, dass Karadzic festgenommen wurde. Wir bekommen nichts zurück, was wir verloren haben", sagt sie. Und nach einer kurzen Pause: "Vielleicht ein bisschen Gerechtigkeit." Wie kann sich Gerechtigkeit für jemanden wie Muniba anfühlen? In Srebrenica hat sie zusammen mit ihrem Mann einen kleinen Bauernhof betrieben. Sie hätten gut gelebt. Srebrenica sei eine kleine, wohlhabende Stadt gewesen. In Sarajevo arbeitet sie in einer Bäckerei und lebt mit ihren Kindern in einem Haus, das ihr der Hamburger Verein Hilfsbrücke Hamburg-Bosnien finanziert hat. Diesen Menschen, die gespendet haben, ist sie dankbar. Es wurden auch Patenschaften für ihre Kinder übernommen. Doch die beiden ältesten sind jetzt mit der Schule fertig und finden keine Arbeit. Für die Zukunft wünscht sie sich, dass alles gut wird. Das Letzte, was ihr Mann Omer ihr noch gesagt hat, war: "Pass auf unsere Kinder auf." Das macht sie jetzt seit 13 Jahren allein. Manchmal ist es ihr zu viel. Doch aufgeben, das kann sie nicht. Das hat sie ihrem Mann versprochen.
Auf dem Weg in die Zukunft treffen wir Armina Podzerac in ihrem Haus im Stadtteil Ilidza. Sie sitzt draußen im Garten, an einem Holztisch auf modernen Gartenstühlen. In ihrem Rücken liegen reife Birnen auf einer Kiste. Vor dem Krieg haben sie hier viel angebaut und aus dem Obst Säfte gemacht, das Gemüse eingekocht. Während des Krieges war Ilidza von Serben besetzt und somit auch dieses Haus, das damals noch von ihrer Mutter bewohnt worden war. Als der Krieg ausbrach, zog sie zu Armina in die Innenstadt. Ilidza war zu einer No-go-area geworden. Armina Podzerac unterrichtet Deutsch am vierten Gymnasium von Sarajevo. Zusammen mit der Hamburger Lehrerin Cläre Bordes von der Gesamtschule Stellingen organisiert sie schon seit 2004 einen Schüleraustausch. Die Jugendlichen beider Schulen arbeiten gemeinsam an einem ökologischen Projekt, Klimaschutz in Sarajevo. Doch eigentlich geht es bei dem Austausch um das Verstehen kultureller Vielfalt, um Geschichte und um Völkerverständigung. Armina Podzerac ist von dem Sinn des Ganzen überzeugt.
"Es ist wichtig für die jungen Menschen hier, Perspektiven zu haben. Ihren Horizont zu erweitern."
Einmal war man schon so weit: 1984, als die Olympischen Winterspiele in Sarajevo ausgetragen wurden. "Damals waren wir im Zentrum der Welt", erinnert sich Armina, sie war Studentin und arbeitete im Umfeld der Spiele. Die Stadt war bunt, alle Gebäude renoviert. Ihr Gesicht wird mild bei der Erinnerung. Alle haben zusammen friedlich gefeiert. Es gab keine Kroaten, Serben oder Bosniaken. Nur Jugoslawen. "Wir haben uns alle wie Brüder gefühlt." Sechs, sieben Jahre später brach das alles zusammen. Titos Sozialismus scheiterte. Schwanger und mit einem Kleinkind musste Armina 1994 durch den Sarajevo-Tunnel fliehen. Der Tunnel wurde während der Belagerung von Sarajevos Zivilbevölkerung heimlich gebaut und führte unter der Start- und Landebahn des Flughafens und unter der serbischen Belagerung hindurch. Es war der einzige Fluchtweg, er diente zudem der Versorgung der Stadt. Den Rest des Krieges verbrachte Armina bei ihren Schwiegereltern in Slowenien und in Flüchtlingslagern. Ihren Mann sah sie zweieinhalb Jahre nicht. Dann erst kehrte sie nach Sarajevo zurück. Bekam das Haus ihrer Mutter wieder, dessen Dachstuhl und einige Zimmer noch schnell von den Besatzern angezündet worden waren.
"Ich spüre keinen Hass", sagt Armina, "das könnte ich auch nicht, weil ich für meine Schüler ein Vorbild sein muss. Und sie sollen in Frieden leben." Trotzdem merkt sie unter ihren Schülern eine Gruppenbildung. Früher habe man die Muslime hier immer "die Türken" geschimpft. Als Karadzic gefasst wurde, jubelten einige Schüler, die den Krieg selbst gar nicht miterlebt haben: "Wir sind die Türken. Wir sind die Türken."
In Ilidza leben kaum noch Serben, die meisten wie auch Arminas Nachbarin sind in die Republika Srpska gezogen.
An unserem Abflugtag treffen wir Elvir noch einmal in der Fußgängerzone von Sarajevo. Er zeigt uns den Brunnen der Begova Dzamija Moschee. Aus der Mauer der Moschee ragen zwei Wasserhähne heraus. Touristen und Einheimische stellen sich an, um daraus zu trinken. Auch Elvir. Er sagt: "Wer hieraus trinkt, kommt immer wieder nach Sarajevo zurück." Wir trinken auch.
Vom Flugzeug aus sieht man die grünen Wälder Bosniens. Satt, bergig und idyllisch. Nur viele der Wälder wird man noch in 20 Jahren nicht betreten dürfen. Alle Kriegsparteien haben dort ihre Minen hinterlassen. Die Räumung geht nur langsam voran.
Zurück in Hamburg treffen wir zum Abschluss einen jungen Mann, der die Zukunft Bosniens nur aus der Ferne erleben wird. Jasenko Joldic hätte auch einer der Schüler von Armina Podzerac sein können. Doch auch er ist wie Elvir als Kind nach Hamburg gekommen. Seine Familie ist nicht mehr zurückgekehrt. Er ist heute 22 Jahre alt und studiert Medienkommunikation. Auch er erzählt die Geschichte von seiner Flucht, von den Schwierigkeiten der Integration und von dem Gefühl der Entwurzelung. In Bosnien fühlt er sich nicht mehr heimisch. Jasenko Joldic war sechs, als der Krieg ausbrach. Er berichtet von seinem Großvater, der im Lager war, von der Flucht, auf der sie jede Stunde anhalten mussten, weil sein Opa so zusammengeschlagen worden war, dass er innere Blutungen hatte. Er erzählt von seiner Mutter, die die Kriegserlebnisse nicht vergessen kann. Auf die Frage, ob der Krieg auch eine positive Wendung für sein Leben gebracht hätte, sagt er: "Es gibt nichts Positives, das man im Krieg lernen kann, außer dass Krieg scheiße ist." Er ist desillusioniert und doch voller Antrieb, die Geschichte weiterzuerzählen.
Im nächsten Jahr will er die Hamburger Schüler, die wieder zum Austausch nach Sarajevo fahren, begleiten und einen Film über sie drehen. Trotzdem er sagt, "ich wäre ein anderer geworden ohne den Krieg", hat er große Ziele. Er möchte Regisseur werden.
Vielleicht trinkt er ja auch aus dem Brunnen.