Sport heißt in China schon seit Konfuzius: Ein Volk ist in Bewegung. Jetzt hat das Land den Wettkampf entdeckt und nutzt internationale Erfolge für sein Image. Das Projekt Olympia soll China zur stärksten Sportnation der Welt machen. Ein Report.
Abends, wenn sie nach einem harten Trainingstag nach Hause kommt, weint Deng oft. Die Fünfjährige hat Blasen an den Händen, weil sie wieder zehn Minuten lang an einer Reckstange hängen musste. Ihre Eltern leben in Shanghai in einem kleinen Zimmer. Deng ist die Hoffnung der Familie. Sie soll eine erfolgreiche Sportlerin werden, Ruhm ernten, Geld verdienen und dem arbeitslosen Vater und der Mutter, einer Kassiererin im Supermarkt, zum sozialen Aufstieg verhelfen. Dafür schuftet Deng in der Turnfabrik von Luyan. Die ARD zeigt am 6. August um 23.30 Uhr die preisgekrönte Dokumentation des chinesischen Regisseurs Chao Gan "Tränen und Träume - Chinas Kinderturnfabrik". Es sind erschreckende Bilder.
Vor den gusseisernen Toren eines riesigen Behördenkomplexes hat sich im Zentrum Pekings eine Gruppe von etwa 50 Frauen und Männern auf dem breiten Vorplatz versammelt. Die Sonne ist untergegangen, es wird kühl. Aus vier Lautsprechern klingt Musik. Die Beamten bewegen sich rhythmisch zu den Klängen, schwingen Hüften, lassen Arme kreisen und heben Beine. Nach einer halben Stunde ist die Gruppengymnastik beendet. Entspannt steigen die Menschen auf ihre Fahrräder, gehen zu ihren Autos oder zum Bus. Ähnliche Szenen sind tagsüber in öffentlichen Gärten und Parks zu sehen. Ein Volk ist in Bewegung, dehnt und streckt sich. Und das seit etwa 2500 Jahren. Tai-Chi, das Schattenboxen, gilt als Volkssport.
China 2008. Ein Land mit vielen Facetten. Sport ohne Wettkampfcharakter hatte im Reich der Mitte Tradition. Im Jahr der Olympischen Spiele zählen Erfolge. Erstmals wollen die Chinesen die USA übertreffen, die Medaillenwertung gewinnen. Ihre Experten haben ausgerechnet: 109-mal könnten chinesische Sportler auf dem Treppchen stehen. Seit sieben Jahren, seit der Vergabe der Spiele an Peking, wird daran gearbeitet. Ihr ursprüngliches Ziel, alle 302 Goldmedaillen zu gewinnen, haben die Chinesen aufgegeben. Es erschien mit legalen Mitteln unerreichbar. Jetzt wollen sie nur noch das meiste Gold holen - und über jeden Verdacht erhaben sein. Ein einziger Dopingfall würde alle Triumphe zerstören. Deshalb wurden erstmals Kontrollen ernst genommen. In diesem Jahr wurden bisher 37 Athleten ertappt und gesperrt. Das ist die offizielle Zahl.
Die Spiele 2004 in Athen dienten als Testlauf für den anstehenden Prestigeauftritt. 407 Athleten besetzten erstmals alle Sportarten. Heraus kamen 32 Goldmedaillen, vier weniger, als die USA hatten. In Peking werden es 639 chinesische Sportler sein. Eine Nation lässt ihre Muskeln spielen. Verteilte sich die fast stetig steigende Anzahl der Medaillen seit der Rückkehr auf die olympische Bühne 1984 in Los Angeles hauptsächlich auf Turnen (41), Wasserspringen (33), Tischtennis (31), Gewichtheben (30), Schießen (28), Schwimmen (25) und Badminton (19), soll der Angriff aufs Edelmetall nun flächendeckend erfolgen.
2004 gewann Liu Xiang, damals 21 Jahre alt, die 110 Meter Hürden und damit als erster Chinese Gold in der Leichtathletik, der olympischen Kernsportart.
Die Entwicklung Chinas zur stärksten Sportmacht der Welt scheint zwangsläufig zu sein. 1,3 Milliarden Menschenbilden ein unerschöpfliches Potenzial. Dabei gelten spezielle Gesetze. Während in Deutschland die meisten Olympia-sieger von ihrem Ruhm über den Tag hinaus kaum profitieren, haben chinesische Goldmedaillengewinner meist ausgesorgt. Neben umgerechnet 25 000 Euro Siegesprämie (15 000 Euro in Deutschland) garantiert die Regierung Arbeitsplätze bis zum Ruhestand.
Auch die Werbung hat die Stars entdeckt. Der Wasserspringerin Jingjing Guo schenkte eine Baufirma aus der Provinzhauptstadt Shijiazhuang nach ihrem Triumph in Athen ein Haus im Wert von 100 000 Euro. Die Studentin Xuejuan Luo aus Hangzhou, Siegerin im 100-Meter-Brustschwimmen, darf bis zum Ende ihrer Tage kostenlos telefonieren. In Athen hielt sie nach der Pressekonferenz ihr neues Handy in die Kamera des chinesischen Staatsfernsehens. Das missfiel vielen Funktionären, aber stoppen können sie die Entwicklung nicht. Immer mehr Eltern der breiten Mittelschicht, dazu rechnet man in China 400 Millionen, schicken ihre Kinder zur Schule statt zum Sport. Manager wird man leichter als Olympiasieger. Es sind heute meist Sprösslinge aus ärmeren Verhältnissen, die dem Drill ehrgeiziger Trainer ausgesetzt werden, deren Karrieren vom Erfolg abhängig sind.
In den 70er-Jahren bis Anfang der 90er bot der Sport wie in allen sozialistischen Ländern und den Gettos der kapitalistischen auch in China die beste Chance zum sozialen Aufstieg. Der Weg an die Spitze war hart. In den mehr als 3000 Sportschulen des Landes herrschten Zucht, Ordnung und militärischer Drill. Die Auslese begann im frühen Kindesalter. Wer es in den Nationalkader schaffte, erhielt ein monatliches Stipendium von etwa 20 Euro, freie Kost und Logis. Dopingpillen, hieß es, gehörten zu den Grundnahrungsmitteln. Tests fanden selten statt, ausländische Kontrolleure mussten tagelang auf ein Visum warten. Der Spuk endete 1998. Australische Behörden entdeckten im Gepäck der chinesischen Schwimmnationalmannschaft, die zur Weltmeisterschaft nach Perth reisen wollte, massenweise Ampullen verbotener Substanzen. Die Chinesen zogen ihr Team zurück und räumten im eigenen Lager in einer Art sportlicher Kulturrevolution auf. Trainer wie der berüchtigte Leichtathletik-Coach Ma Junren mussten gehen, Funktionäre wurden pensioniert. Peking brauchte eine Imagekorrektur, als 2001 die Entscheidung über den Austragungsort der Spiele 2008 anstand. Der Kurswechsel kam rechtzeitig, China erhielt den Zuschlag trotz massiver Proteste von Menschenrechtsorganisationen.
Die Sportförderung passte sich den Verhältnissen an. Stipendien wurden auf bis zu 500 Euro im Monat erhöht, trainiert wird mit modernstem Gerät, Wissenschaftler und Mediziner steuern die Belastungen computergestützt. Ausländische Trainer wurden massenweise ins Land geholt. In den Sportschulen werden jetzt Fächer wie Ernährung und Psychologie unterrichtet, der Ton zwischen Lehrern und Schülern hat sich entschärft. Zucht und Ordnung herrschen aber weiter, 30 bis 35 Stunden in der Woche wird trainiert. "Es geht im Training oft brutal zu, aber ich habe nie gesehen oder gehört, dass in China ein Sportler oder eine Sportlerin geschlagen wurde. Das wiederum habe ich in Japan erlebt. Dort ist der Sport weit hierarchischer strukturiert als in China", sagt der Hamburger (Beach-)Volleyballtrainer Olaf Kortmann, der Asien öfter bereiste.
Für den aktuellen olympischen Zyklus unterstützten Städte und Provinzen in den vergangenen vier Jahren etwa 30 000 Karrieren. Für die Spiele in Peking wurden am Ende 3200 Sportler in den Landeskadern geführt. Das Programm kostet 50 Millionen Euro im Jahr. Wie klein die Chance ist, Spitzensportler zu werden, mussten vor sieben Jahren 12 000 Jungen und Mädchen erfahren. Gesucht wurden Segler für die elf olympischen Klassen. Wie bei einer Castingshow. Nach einem Jahr Auswahlverfahren blieben 100 Kandidaten übrig. 18 sind bei den Spielen dabei. Das ist alles.