Die Frau des Dichters Richard Dehmel führte Maler und Literaten in ihrem Haus in Blankenese zusammen und pflegte die Kultur. Bis zum jähen Ende 1933 - als Juden in diesem Land nichts mehr wert sein sollten. Eine Spurensuche.
Eine mannshohe Buchenhecke verbirgt das Kleinod mitten in Blankenese, nur einen Steinwurf von der belebten Blankeneser Landstraße entfernt, vor neugierigen Blicken. Das Grundstück an der Richard-Dehmel-Straße 1 ist nicht einsehbar, lediglich die unverschlossene Pforte gibt den Weg in den Garten frei. Ein verwunschener Platz. Das Grün um den satten Rasen, den schon lange niemand mehr gemäht hat, ist wild und naturbelassen, man könnte auch sagen, wenig gepflegt.
An der Eingangstür der herrschaftlichen Villa steht der Name "Dehmel" auf einem schon leicht schwarz angelaufenen Namensschild aus Metall. Neben der Tür klebt ein kleiner roter Zettel, auf dem der Schornsteinfeger sein Kommen für den 28. Februar 2008 ankündigt. Auf dem Boden liegt alter Werbeprospekt. Und in den Maschen der Gartenpforte lädt ein Zettel zum Tag der offenen Tür bei der Freiwilligen Feuerwehr Blankenese ein.
Auf diesem Grundstück scheinen sich Zeit und Raum zu verlieren. Ein Haus im Dornröschenschlaf. Efeu und Glyzinien haben den hohen Putzbau fast komplett erobert.
Keiner der drei Klingelknöpfe erzeugt einen Ton. Hat sich da nicht gerade etwas hinter dem Vorhang bewegt? Nein, sicher nicht. Die graue Gardine mit gehäkelter Spitze hängt formlos hinter beinahe blickdichten Scheiben.
Niemand vermutet, dass dieses Gebäude einst ein Zentrum des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in Hamburg war. "Ich wohne zwei Straßen weiter, seit bald 20 Jahren. Und jeden Tag gehe ich an diesem großen, verlassenen Haus vorbei. Jedes Mal habe ich mich gefragt, wer hier wohl wohnt", sagt eine ältere Dame, die auf der Richard-Dehmel-Straße mit ihrem Hund spazieren geht. "Nie habe ich hier jemanden raus- oder reingehen sehen."
Dieses denkmalgeschützte Haus hat vor einigen Jahren Claus Grossner erworben. Jener Hamburger Geschäftsmann, der zuletzt in einen Rechtsstreit um Anteile am Suhrkamp-Verlag verwickelt war. Die 1910 vom Architekten Walter Baedeker gebaute Villa soll irgendwann einmal als Museum zugänglich sein.
Und das lohnt sich: Dieses Haus hat Geschichte.
Hier lebten seit 1912 der Hamburger Dichter Richard Dehmel und seine Frau Ida. Im Künstlersalon trafen sich Maler und Literaten, die Bohème des Landes. Max Liebermann und Detlev von Liliencron gingen ein und aus, machten es sich bei Soirees auf den Jugendstilmöbeln der Dehmels bequem. Ida Dehmel sorgte für ein offenes Haus, einen Stil, den es in Hamburg in dieser Zeit kaum gab. Sie wollte eine Muse sein, seit sie ein junges Mädchen war. Sie selbst war weniger begabt. Zwar brachte sie auch Gedichte zu Papier, merkte aber bald, dass sie eigentlich dafür geschaffen war, andere Künstler zu fördern und in ihrem Haus zusammenzuführen.
Ida Dehmel war ein respektierter Teil der feinen Blankeneser Gesellschaft, auch nach dem Tod ihres Mannes 1920. Bis 1933. Dann durfte sie keine Muse mehr sein - weil sie Jüdin war, lebte aber mit einer Sondergenehmigung weiter in dem Haus. Die Zerstörung ihres Lebens und die Angst vor den Nazis trieb sie in den Selbstmord. Im Alter von 72 Jahren nahm sie sich 1942 mit Schlaftabletten das Leben. In der Straße vor dem Haus erinnert heute ein Stolperstein an Ida Dehmel.
Als sie 1896 das erste Mal Richard Dehmel begegnete, waren beide noch mit anderen Partnern verheiratet. Ida Dehmels Ehe war noch von ihrem Vater, einem konservativen Kaufmann aus Bingen am Rhein, arrangiert worden. Ida, die bereits einen Sohn hatte, ließ alles stehen und liegen und ging mit Richard nach Hamburg. Richard Dehmels Gedicht "Empfang" belegt die exzessive Liebe und das Verlangen zwischen den beiden:
"Wie dein Ohr brennt! wie dein Mieder drückt! / rasch, reiß auf, du atmest mit Beschwerde; / o, wie hüpft dein Herzchen nun beglückt! / Komm, ich trage dich, du wildes Wunder: / wie dich Gott gemacht hat! weg den Plunder! / und dein Brautbett ist die ganze Erde."
Ida und Richard wurden ein Traumpaar, nicht nur, weil sie "für damalige Verhältnisse in einer nicht gekannten Offenheit mit ihrer Erotik umgingen", sagt ihr Biograf Matthias Wegner ("Aber die Liebe. Der Lebenstraum der Ida Dehmel", Claassen-Verlag). Fotos dokumentieren ihre Lust an der Verkleidung und ihren Hang für "alles Dekorative", sagt Wegner. Feinste Stoffe, avantgardistischer Schmuck und Kleider, die alle Blicke auf die dunkle Schönheit mit dem vollen Haar zogen. "Sie wollte das so - und sie wollte auch provozieren", sagt der Autor. Das sei wichtig für sie gewesen, um aus dem Schatten ihres so präsenten Mannes heraustreten zu können. Es gelang ihr. Wenn Ida Dehmel zu ihren Soirees einlud, kamen sie alle.
Im Mittelpunkt der Künstlerkreise zu stehen, hatte sie zu ihrer Lebensaufgabe gemacht - und institutionalisiert: 1926 gründete sie den Bund Deutscher Künstlerinnen, aus dem später die Gemeinschaft Deutscher und Österreichischer Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen hervorging (Gedok). Die Gemeinschaft gibt es heute noch - das größte Netzwerk für Künstlerinnen in Europa. Alle drei Jahre verleiht die Gedok in Gedenken an die Gründerin den "Ida-Dehmel-Literaturpreis".
Ida Dehmel setzte sich für das Frauenwahlrecht und Frauenrechte in der rigiden wilhelminischen Gesellschaft ein. "Sie war keine Kämpferin wie Rosa Luxemburg. Ida Dehmel war diplomatischer, wollte vermitteln. Sie wollte nicht kämpfen", sagt Wegner.
Als ihr Mann dem "Hurra-Patriotismus" (Matthias Wegner) des Ersten Weltkrieges verfiel und sich 1914 mit fast 50 Jahren noch einziehen ließ, wurde sie jäh aus ihrem vergeistigten Leben gerissen. Bis zu seinem Tod feierte Richard Dehmel martialisch die Überlegenheit der deutschen Nation. Daran änderte sich auch nichts, als Idas Sohn aus 1917 fiel.
"Eigentlich wollte ich eine Arbeit über Richard Dehmel schreiben", sagt Biograf Wegner. "Ich wollte herausfinden, warum sich heutzutage keiner mehr an diesen literarischen Shootingstar von damals erinnert. Aber je tiefer ich in sein, und somit in ihr Leben eintauchte, desto unsympathischer wurde er mir. Gleichzeitig wurde Ida immer spannender für mich."
Die Religion, das Judentum, war Ida Dehmel zeitlebens fremd. In ihrem Elternhaus pflegte man das "Jüdischsein" nicht, sie wurde weder jüdisch erzogen, noch hat sie es selbst für sich entdeckt. Auch in ihrer Hamburger Zeit nicht. Bis 1933. Als SA-Männer eine Versammlung der Gedok im Hamburger Hof am Jungfernstieg stürmten und sie aufforderten, alle Ämter niederzulegen. Als Blankeneser die Straßenseite wechselten, wenn sie ihr begegneten. Als sie sich ab 1938 plötzlich "Jedidja" nennen musste. Als ihr verboten wurde, Texte ihres Mannes oder gar eigene zu veröffentlichen.
Dabei war ihr gerade das seit dem Tod Richards so wichtig geworden: die Pflege seines Nachlasses. Die Akribie, Leidenschaft und Systematik, mit der sie das Archiv angelegt hat, ist heute noch sichtbar: Im Dehmel-Archiv in der Handschriftensammlung der Staatsbibliothek. Ida Dehmel, die mit 15 Jahren nach dem Tod ihrer Mutter aus einem Internat in Brüssel genommen wurde, damit sie ihrem Vater den Haushalt führte, die nie eine Universität besucht oder einen Beruf erlernt hatte, verwaltete 15 000 Drucksachen ihres Mannes. "Davon profitieren die Wissenschaftler heute noch. Das Dehmel-Archiv war definitiv ihre größte Leistung", sagt Wegner, der selbst unzählige Stunden dort in Idas Leben eintauchte.
"Häuser erzählen Geschichten." So beginnt Matthias Wegners Buch über Ida Dehmel. Und so hört es auch auf. Wenn man heute das Haus betrachtet, versteht man, was er meint. Auf dem Schild steht immer noch ihr Name. Ein deutscher Name, der sie irgendwann nicht mehr schützen konnte, als ihr, wie 6000 anderen Hamburgern, die Deportation drohte.
Die Klingeln an dem einstmals so schmucken Haus kündigten vor fast einem Jahrhundert Besucher aus ganz Deutschland an. Wie stumm sie jetzt sind.