Für die einen ist er virtueller Segen, für andere ein weiterer Fluch in der Konkurrenz um noch schnellere Daten und Informationen. Doch wie funktioniert Twitter wirklich? Ein Wochen-Protokoll.

Tag 1: Der Entschluss Ok, ich tu's. Ich werde mir ein Profil bei Twitter anlegen. Nicht, dass ich mich unter-informiert fühle und nicht genügend in sozialen Netzwerken im Internet präsent wäre. Mit drei E-Mail-Adressen, einem Handy, einer Internet-Flatrate zu Hause und gewissermaßen am Arbeitsplatz und einem Profil auf der Plattform "Xing" fühle ich mich eigentlich in der virtuellen Ewigkeit hinreichend vertreten.

Doch jetzt redet alle Welt über den neuen Kurznachrichtendienst, bei dem nicht einfach nur "gepostet", also ein Beitrag geschrieben und gesendet wird - sondern "Tweets" gezwitschert werden.

Dieses scheinbar so einfache Prinzip ist zum absoluten Faszinosum avanciert, weltweit sind ihm mehr als sechs Millionen Menschen verfallen, in Deutschland sollen es etwa 100 000 sein. Dabei geht es nur darum, kleine Texte von maximal 140 Zeichen zu verfassen oder zu erhalten. Von Bekannten, Freunden, Medien, Geschäftspartnern. Quasi in Echtzeit. Und kostenlos. Informationen - noch kürzer, noch schneller. Prinzipiell ist da doch nichts einzuwenden.

Tag 2: Der Einstieg Die Anmeldung bei www.twitter.com ist einfach, wenn auch die Erfinder Jack Dorsey, Biz Stone und Evan Williams, die den Dienst 2006 in San Francisco entwickelten, bei der Gestaltung der Internetseite ebenfalls kurz angebunden gewesen sein müssen: Lange Erklärungen gibt es nicht. Das ist konsequent. Und ganz angenehm, wenn man erst einmal das System Twitter verstanden hat.

Also: Name, Passwort und E-Mail-Adresse eingegeben, jetzt kann es losgehen. Nun bin ich in der Twitter-Welt ein so genannter "Follower", eine "Verfolgerin", die die Nachrichten von anderen verfolgt (an dieser Stelle seien die vielen englischen Ausdrücke entschuldigt - das ist kein Versuch, besonders modern oder jugendlich rüberzukommen, sondern passiert einfach in Ermangelung einer deutschen Internetseite von Twitter). Jeder Nutzer kann sich bei jedem anderen eintragen, Nachrichten abonnieren und so jederzeit an jedem Ort Mitteilungen lesen. Theoretisch ist es möglich, 10, 100, 1000 oder 10 000 Menschen auf der Welt zu kontaktieren. Gleichzeitig. Twitter schlägt dem neuen Mitglied netterweise auch gleich am Anfang zehn Personen vor, die man verfolgen kann. Darunter Kevin Smith aus Los Angeles, Agent_M aus New York oder Mrs Kutcher. Kein Scherz, es handelt sich um die US-Schauspielerin Demi Moore.

Tag 3: Das mobile Problem Langsam blicke ich durch. Ich habe jetzt auch endlich den Menüpunkt gefunden, in den ich meine Handynummer eintragen kann. Ich möchte Twitter auch über das Handy nutzen, die Nachrichten auch unterwegs verschicken und erhalten, per SMS. Aber so einfach ist das nicht. "Kein Service für diese Handynummer", heißt es, sobald ich meine Nummer eintrage. Ich rufe bei der Hotline meines Handy-Anbieters an. Die kennen sich bestimmt mit den Besonderheiten von Twitter aus, bin ich überzeugt, die werden mir helfen. "Twitter? Was soll das bitte sein?", heißt es dort eher nüchtern. Nun gut. Über Umwege finde ich heraus, dass man nur in den USA und in Japan über SMS zwitschern kann. Nur Smartphones, also Blackberry, iPhones und Co machen mit entsprechenden Applikationen Twitter unterwegs möglich. Ist das schon die Grenze grenzenloser Information? Ich habe kein Smartphone. Meine Euphorie ist gebremst.

Tag 4: Die Verfolgten Die Euphorie kehrt zurück: Ein Twitter-fester Kollege hat mir dazu geraten, die Programme "TwitterFox" und "TweetDeck" runterzuladen und zu installieren. Sie sind kostenlos und vereinfachen den Informationsgenuss auf ganzer Linie. Ab jetzt poppt immer ein kleines Fenster am rechten unteren Bildschirmrand meines Computers auf, wenn meine "Verfolgten" Nachrichten zwitschern. Langsam wird mir klar, dass Demi Moore in dem Moment, wenn dieses kleine Fenster aufpoppt, an ihrem Laptop sitzt und gerade nichts anderes zu tun hat als "Ich liebe meinen Mann über alles!" zu schreiben. Das bringt mich darauf, nach diesem zu suchen. Mein Enthusiasmus steigert sich ins Unermessliche, als ich tatsächlich Ashton Kutcher finde. Ein sehr aktiver Twitterer, dessen Nachrichten 480 122 Menschen auf der Welt verfolgen (zum Vergleich: Der hessische SPD-Landesvorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel hat 2499 Verfolger). Unter dem Menüpunkt "Find People" halte ich Ausschau nach weiteren prominenten Personen oder Institutionen aus Gesellschaft und Politik - ach was, man muss sagen: Ich wildere nach ihnen. Meine Liste wird immer länger: Barack Obama, Britney Spears, Ralf Stegner (Chef der schleswig-holsteinischen SPD), alle Volksparteien und natürlich Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ich verfolge sie alle und fühle mich wie ein Kind, das unbegrenzt im Süßwarenladen naschen darf. Mal hier, mal da. Plötzlich sehe ich, dass auch ich verfolgt werde. Von Barack Obama! Leider ist sein letzter Eintrag schon etwas länger her, vom 5. November 2008. Einen Tag nach seiner Wahl zum Präsidenten. Er schreibt: "Wir haben Geschichte geschrieben. All dies ist aufgrund Ihrer Zeit, Ihren Eigenschaften und Ihrer Hingabe geschehen. All das war Ihretwegen möglich. Danke." Yes, we have Gänsehaut!

Tag 5: Die Ernüchterung Ich fühle mich verkatert. Twitter-verkatert. Immer wieder poppt dieses Fenster auf, in den Abendstunden immer häufiger, wenn die Twitterer Feierabend haben. Ich will nicht jede Nachricht lesen. Doch meine Augen wandern jedes Mal automatisch auf das kleine Fenster. Wer schreibt denn jetzt schon wieder Spannendes? Ich kann nicht aufhören, ich kann nicht anders, ich muss lesen! Und mir vielleicht auch den Link anschauen, den einige Nutzer mitschicken, wenn eben doch nicht alles in 140 Zeichen gesagt werden kann. Leider kommt eine bittere Erkenntnis hinzu. Angela Merkel schreibt: "Ich würd mich gern mal mit dem Jan Ullrich treffen, damit der mir Tipps zu Extasy und anderen nützlichen Pillen geben kann ..." So viel zur Echtheit in Echtzeit!

Tag 6: Die Nachrichten Es ist eine Sache, zu twittern, und eine andere, zu filtern. Ich habe mich dazu entschlossen, mit Anspruch zu twittern. Auch wenn Nachrichten von Ashton Kutcher wie: "Gerade in Frankfurt gelandet. Mal sehen, in welchen Flieger ich jetzt einsteige!", einen gewissen Reiz haben. Andere wiederum, na ja, so gar nicht. Besonders die mit Wetterbezug.

Eine kleine Auswahl:

"Sauna tat gut an dem nassen Montag!" (Ralf Stegner)

"Was ein bloedes Wetter. Passt zu Kauders Opel-Bemerkung. Was sagt eigentlich Koch dazu? Da weiß Einer nicht, was der Andere tut." (Thorsten Schäfer-Gümbel)

"Hatte gerade Lamm mit Reis für fünf Dollar." (Agent_M)

"Mitarbeiterfruehstueck, alle fragen, ob ich schon wieder twitter. Klar mache ich es!" (noch einmal Schäfer-Gümbel).

Tag 7: Der Konsens Trotz einiger sinnleerer Nutzungs-Szenerien und dem ultimativen Informations-Striptease vieler Zwitscherer habe ich mich nach einer Woche schon an Twitter gewöhnt. Die Königsdisziplin heißt jetzt, im virtuellen wie im realen Leben: Wichtiges von weniger Wichtigem unterscheiden. Ich kann schnell wichtige Nachrichten konsumieren, wenn auch zunächst nur bruchstückhaft, und dann entscheiden, ob ich sie weiter verfolge. Und ich habe bereits nach einer Woche gelernt, wie ich nutzlose Mit-Twitterer wieder los werden kann. Einfach auf "remove" klicken.


Das Abendblatt bei Twitter: www.abendblatt.de/twitter