Eigentlich ist die Kultfigur Lilo Wanders ein Mann. Der Schauspieler Ernie Reinhardt hat die “Sexpertin der Nation“ Ende der 80iger erfunden.
Hamburg. Das ist schon eine schräge Situation. Dieses Gespräch zu zweit. Und auch zu dritt. Ein verwirrendes Rollenspiel. Auf einem Bauernhof irgendwo hinter dem Deich. Mitten in den Obstplantagen im Alten Land. Am Ende einer Schotterpiste. Hier lebt sie. Lilo Wanders, die Sexpertin der Nation. Mit Ernie Reinhardt, dem Schauspieler, der sie Ende der Achtzigerjahre erfunden hat. Sein Alter Ego. Oder umgekehrt.
Das mit dem Fingernägellackieren hat nicht mehr geklappt, die falschen Wimpern fehlen und auch der Kuchen aus dem Nachbardorf. Dafür sitzt die Perücke perfekt, das Dekollete ist gewohnt üppig. "Wie, das bleibt mein Geheimnis." Im Kamin brennt ein Feuer, Kaffee gibt's reichlich und Gesprächsstoff erst recht. Denn schließlich würden wir ja alle eine Rolle spielen. "Ja, ja, Sie auch." Und blond sei er eben Lilo Wanders. Frisch aufgerüscht aus dem Koffer. Am Mannheimer Nationaltheater gibt er gerade singend und spielend Marlene Dietrich in Paillettenkleid und Pelzmantel.
Ein Gespräch mit Lilo Wanders also. Die das weite und ihrer Meinung nach noch längst nicht zu Ende beackerte Feld von Erotik, Liebe und Sex durchpflügte. Offenherzig und grenzwertig. Aber nie abrutschend in das, was nicht in gegenseitigem Einverständnis zwischen Partnern geschieht, sondern mit Machtausübung, Gewalt und Missbrauch zu tun hat. Und sie empört.
Ein internationaler Frauentag als Anlass für unsere Verabredung, das sei schon witzig, sagt sie. Davon halte sie genauso wenig wie von Muttertag, Valentinstag und was es da sonst noch alles so gibt. Aber eine Expertin in Frauenfragen sei sie schon. So als "grenzüberschreitender Mensch". Aber das sei wieder ein anderes Thema. Es gäbe ja nicht den Mann oder die Frau. Sondern viele, viele Zwischenstufen. "Unter jedem Dach gibt's ein Ach." Für sie als Mensch mit guten Antennen erst recht. Mit einer emphatischen Grundstruktur und einem weit offenen Herzen für alles, was die Leute so bewege. Im Herzen und auf der Matratze. Frei nach ihrem Motto: Öffnet die Herzen und herzt die Öffnungen.
In 545 Sendungen und 353 Kostümen hat sie auf dem Privatsender Vox so aus dem Vollen geschöpft. Zehn Jahre lang. Mit großem Erfolg. "Quote mit Zote." Nichts Menschliches war ihr und blieb uns, den Zuschauern, fremd. Und wenn Sie so wollen, würden Lilo und ihr Schöpfer Ernie jetzt die porzellanene Hochzeit feiern. Und Ernie mit Ehefrau Brigitte Silberhochzeit. "Tja, da haben Sie das schon mal alles. Im Schnelldurchlauf."
Vor dreizehn Jahren ist sie hierher gezogen. Müde vom Großstadtleben. Ein eigenes Zuhause endlich. Ein richtiges Heim. Als Kind sei sie unendlich oft umgezogen. "Immer um Walsrode rum." Wer nun? Er oder sie? Lassen Sie mir meinen Rhythmus, sagt mein Gegenüber. "Ich geb' Ihnen schon was." Lilo Wanders habe ja keine Ahnung, dass sie nicht existiere. "Ich habe mich selber geschaffen und bin doch deckungsgleich mit mir. Segen und Fluch zugleich."
Als es aus war mit "Wa(h)re Liebe", habe sie aber auch durchgeatmet. Endlich Zeit, um als Schauspieler in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Wie damals im "Schmidt" am Spielbudenplatz. Wo Lilo Wanders aus einer Persiflage auf die Sängerin Evelyn Künneke heraus entstand. Eine Kunstfigur, genau wie die Pastorenwitwe Charlotte Jordan, die singende Kindergärtnerin Elke, die Trümmertunte Sally.
Lilo Wanders wurde von der Kunst- zur Kultfigur. Zum Patent angemeldet und mit eigenem Geburtsjahrgang, 1946. Nach ihrem damaligen Autokennzeichen HH-LW 1946. Sie selber, also er, der Ernie Reinhardt, sei Jahrgang 1955. Geboren im September, "die letzte Jungfrau, Aszendent Skorpion, Mond im Schützen. Im ersten Haus. So jetzt wissen Sie alles." In Celle sei sie, nein er, geboren. Das längste Baby, das dort je zur Welt kam. 61 Zentimeter, ohne Pumps. Und in Celle spricht sie auch aus einer der Laternen, die die Stadt aufgestellt hat, um die Schönheiten Celles anzupreisen.
Der schwarze Labrador Cliff hat sich längst auf einer Couch zusammengerollt. Die Kaffeekanne ist bald leer. "Ich explodier gleich", sagt Lilo Wanders. Aber sie könne neuen kochen. Bloß nicht. Wir müssen mal wieder zu unserem Thema zurück. Zu welchem, fragt sie. "Ich bin doch die ganze Zeit ich." Für die Sex nie reine Konsumware gewesen sei. Sondern immer auch verknüpft sein musste mit Zweisamkeit, Zuneigung, Zärtlichkeit, Vertrauen, Respekt. Auch wenn es manchmal schiefging. Wie diese eine tragische Beziehung, über die sie lieber nicht reden möchte. Pause. Man falle eben immer auf dieselben Typen rein. Verliebtsein mache einfach gaga. Und aus Schaden werde man nie klug. Aber geküsste Haut leuchtet, sagt sie dann schnell. Egal von wem, ja, da sei die Natur blöde. Aber das könne man auch von einem Putenrollbraten sagen, der zu lange im Kühlschrank liege. Großes erleichtertes Gelächter. Grad noch mal dran vorbeigeschrammt. Am Seelenentblößen.
Ihr klebt das Etikett an, dass sie alles über Sexualität weiß. Deshalb hat sie auch gerade ein Buch geschrieben. "Voll aufgeklärt - 100 Antworten auf 1000 Fragen". Ein Grundkurs "für Kinder, die heute mit zwölf Jahren Vater und mit 15 Mutter werden". Diese Mädchen, die sich aus Kostengründen bei Bedarf die Pille teilen. Die Jungen, die zur Sicherheit zwei Gummis überziehen und nicht wissen, dass Reibung bei Gummis zur Porosität führe. Mein Gott, sagt sie, ich springe ja wirklich vom Höckchen aufs Stöckchen. Der Bedarf für Aufklärung in Sachen Sex, Erotik und Liebe sei immer noch da, aber im Fernsehen nicht finanzierbar. Diese Pharisäergesellschaft! Alles werde mit Sex beworben, von der Halbfettmargarine bis zum Haarshampoo. Aber Werbung in einem Sexmagazin? Nein! Als wär's der Supergau!
Es folgt ein kurzer Nachschlag zur Weltlage, zur Finanzkrise. Männer würden einen Orgasmus mit Machtgeilheit verwechseln. Oder vice versa. Wenn Frauen Banker wären, wäre die Blase nie geplatzt. Es hätte sie gar nicht erst gegeben. Eine Welt ohne Männer wäre eine Welt voller dicker, glücklicher Frauen und ohne Verbrechen. Und dann kommt es wieder. Dieses tiefe, kehlige Lachen, das auch ein bisschen was von einem Trostpflaster hat.
Es steckt eine sehr lange und auch schmerzhafte Geschichte hinter dieser sympathischen Person, die sich gerne hinter lockeren, frivolen Sprüchen versteckt. Allzu dicht an der Seele kratzende Geschichten abblockt. Sie schon erzählen würde, aber nicht gedruckt sehen möchte. Höchstens in einem selbst geschriebenen Buch.
Alle Menschen haben Verletzungen, sagt sie. Tiefe Narben. Selbst die, die heiter und strahlend scheinen. Dieses Gedicht, das sie bei einer Premiere von "Ariadne auf Naxos" im Programmheft entdeckt habe. Da sei alles drin. Das von Ricarda Huch: "Nicht alle Schmerzen sind heilbar". Diese Schmerzen, die sich tiefer und tiefer ins Herz schleichen und irgendwann zu Stein werden.
Und nach einer langen Pause erzählt sie von Ernie, der sich auf seinem sechzehnten Geburtstag als Homosexueller outet. Der Mutter, "einer klugen Frau", die das alles längst wusste. Ernie, der sich selber das Lesen beibringt, anhand der Kinderfibel, ein paar Jahre später nahtlos übergeht zu Boccaccios "Decamerone", zu "Der Honigsauger" und "Peyton Place". Und daraus fürs Leben lernt. Sein Leben. Ernie. Zu jung, um ein Achtundsechziger zu sein. Zu alt zum Punk. Ernie, der Bibliothekswesen studiert, ein Praktikum in Bremen in den öffentlichen Bücherhallen macht, Millionen von Karteikarten sortiert und dann alles hinschmeißt. Aufs Dorf zurück und den Platz der alten Bibliothekarin übernehmen oder in der Stadt Chemiebücher katalogisieren? Nein. Da habe er lieber gejobbt, nebenbei Theater gespielt mit kleinen eigenen Sketchen. Total unzüchtig. Underground-Theater. In diesen "glücklichen Jahren zwischen der Neufassung des Paragrafen 175, in dem gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen unter über 18-Jährigen nicht mehr als strafbar gelten und vor Aids".
Mein Gott, sagt Lilo Wanders, das ist doch längst kein Kaffeeklatsch mehr. Das ist eine Selbsterfahrungsgruppe! Mit vielen offenen Fragen. Nur zu, sagt sie. Ich rede über alles. Oder fast. Die Sache mit der Ehe also. Kinder. Als bekennender Homosexueller? Liebe mache alles möglich, sagt Lilo Wanders, und absolute Offenheit. Und die sei da gewesen. Von Anfang an. Auch bei diesem Zwischenspiel einer Ehe zu dritt. Man müsse eben alles im Leben mal ausprobieren, aber faule Eier nicht aufessen. Und dieser Spruch, dass Teller leer gegessen werden müssen? Das war doch nur symbolisch gemeint, meine Liebe, sagt Lilo Wanders.
Und sie habe wirklich alles probiert. Nur das mit dem Rucksack durch Südamerika touren leider nicht. Schade. Zu spät. Aber "essen, was auf den Tisch kommt" stimme schon. Für Ernie, der aufwächst, als das Geld zu Hause äußerst knapp ist. Die Mutter und der Stiefvater das großelterliche Geschäft für Kernseife und Salzheringe im Kampf gegen Supermarktketten aufgeben müssen, die Familie sich mühsam von einem Dorf zum nächsten durchschlägt.
Und dann sind sie leider zu Ende. Diese Szenen eines in eine und auch immer wieder aus der Rolle gefallenen Lebens. Die lange nachklingen. Auf der rumpligen Schotterpiste gleich hinterm Deich.