Viele Mädchen rasten aus, wenn sie Tokio Hotel hören. Auch Julia, Sandra und Zarah aus Hamburg waren beim Konzert total aufgeregt. Warum ist das so? Eine Gefühlswelt zwischen Träumen, Freundinnen und Lieblings-Songs.
Schrei! Auch wenn es das letzte ist. Schrei! Auch wenn es weh tut! " Ja, es tut weh, wenn Bill (16), sein Zwillingsbruder Tom, Georg (19) und Gustav (17) auftreten. Weh in den Ohren, weil 12 000 meist weibliche Fans dem Rat der Band folgen und kreischen, bis jeder Düsenjet vor Neid verstummt - wie jüngst in der Color-Line-Arena. Und weh tut's in jedem dieser Mädchen-Herzen, weil 11 999 andere Herzen eine ziemlich große Konkurrenz sind. Eine Fan-Hysterie, die seit den Beatles zur Pop-Welt gehört, hat mit der Magdeburger Band Tokio Hotel einen neuen Höhepunkt erreicht.
Die Verbreitung funktioniert so schnell wie bei Domino-Steinen. Ein Mädchen tickt das andere an - schon fallen sie reihenweise um. Julia (13) ist auf einem Geburtstag mitgerissen worden. "Am nächsten Tag hab' ich mir dann die CD in der Stadt gekauft", erzählt sie. Seit gut einem halben Jahr ist sie Tokio-Fan. Bei ihrer Freundin Sandra (13) war's Liebe auf den zweiten Blick: "Am Anfang fand ich die nicht so gut, aber dann hab' ich die noch mal im Fernsehen gesehen." Zarah (11), die dritte und jüngste in der Clique, hörte einen Song der Band zum ersten Mal auf dem MP3-Player einer Freundin, die sie vom Reiten kennt.
In Julias Zimmer hängt ein Pferdebild neben einem mit Kajal geschminkten Bill. Der Plüschaffe konkurriert mit dem cool dreinschauenden Tom. Im Setzkasten hat alles seine Ordnung, daneben kokettiert Tokio Hotel in einem Abrißhaus mit dem Chaos. Ein Stilmix, der sich nicht ausschließt. Schließlich sind Julia und ihre Freundinnen ganz normale Fans. Keine, die den Idolen hinterherreisen und sich unter deren Hotelbetten verstecken.
"Schon doof", die Band mit Hunderttausenden teilen zu müssen, findet Zarah. Viele waren bemüht, sich fürs Hamburg-Konzert so düster wie Bill oder sogar mit Rastalocken wie Tom zu stylen - aber "die sehen das ja gar nicht", kommentiert Zarah. Ihr Verhältnis zu den Poster-Boys ist eher pragmatisch.
Doch keine Kopie zu sein schützt nicht vor Herzklopfen. Am heftigsten klopft es, wenn ein Auftritt bevorsteht. "Total aufgeregt" war Julia, die ihre Karte schon "total lange davor" hatte. Wenn sie von ihrer Vorfreude erzählt, spricht sie schneller. Das erste Konzert! Allerdings mit Sitzplätzen. Nicht im heiß zu erkämpfenden Kessel vor der Bühne, wo die Emotionen am höchsten kochen, das wollten die Eltern nicht. "Ich mußte mir immer wieder sagen: Die sind da jetzt wirklich", sagt Julia. "Man kennt die ja nur von Postern, und auf einmal . . ." Zarah ist immer noch sprachlos, denkt sie an ihre Helden im Stroboskop-Gewitter. Was genau das Kribbeln im Bauch auslöst, ist für die Freundinnen schwer zu erklären. "Tom, ich weiß nicht, der ist mehr im Hintergrund auf den Postern. Ich find' den irgendwie cool, auch die Klamotten", sagt Julia. Eins steht fest: Geteilte Euphorie ist zigfache Euphorie. Gewinkt hätten sie beim Konzert, gesungen, geschrien. "Ich hatte am Anfang Angst, daß ich umkippe", gibt Sandra zu.
Ein Ausnahmezustand, der nachhallt. Aus diesem Stoff sind die Träume im Alltag. "Ich höre die Musik nach der Schule, wenn ich kaputt bin", erzählt Julia. Das Mädchen mit den braungelockten Haaren mag die ruhigen Stücke wie "das mit dem Engel. Bei manchen Liedern wird man traurig", meint sie und lächelt leicht verlegen. Sandras Lieblingssong ist "Freunde bleiben". Ideal bei Frust. "Bei dem Lied ist Bill wütend. Wenn man selber wütend ist, kann man das gut hören."
Auch Lehrer haben erkannt, daß sich mit dem Phänomen Tokio Hotel die Aufmerksamkeit der Schüler wecken läßt. Das Quartett war in der 7. Klasse der Gesamtschule Harburg, in die Sandra und Julia gehen, bereits Gegenstand von Referaten. Im Unterricht wurden Artikel über die Band analysiert. "Meine Musiklehrerin steht total auf die", berichtet Zarah aus der 5. Klasse. "Durch den Monsun" hätten sie sogar mit dem Chor im Weihnachtskonzert gesungen. "Hat sich aber irgendwie nicht ganz so gut angehört", gesteht Zarah.
Nicht überall stößt das Thema auf so große Gegenliebe. "Wenn wir über Tokio Hotel reden, tun die Jungs so, als ob ihnen schlecht wird", sagt Zarah. "Ist mir egal. Ich stell' mich nicht auf die anderen ein." Zum Fan-Sein gehört Selbstbewußtsein. Und Hingabe. In einem Ordner sammelt Zarah jeden Schnipsel über ihre Stars.
"Ich kann mir nicht vorstellen, kein Fan mehr zu sein. Nur wenn die gar nichts mehr rausbringen, könnte ich sie ein bißchen vergessen", sagt Sandra. "Aber die Poster würden dann immer noch in meinem Zimmer hängen."